Teasergrafik Altpapier vom 2. März 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 2. März 2022 Heißer Informationskrieg

02. März 2022, 10:21 Uhr

Von Google und Apple bis zu Tiktok: Alle Medien-Infrastrukturen reagieren auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ist es dennoch kontraproduktiv, russische Desinformation zu verbieten? Was erst mal doch nicht gilt: das deutsche NetzDG in seiner neuen Form. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die Infrastrukturen sind global

Es ist Krieg mitten in Europa, schließlich gehört der Aggressorstaat Russland ebenfalls zum Kontinent. Es ist keineswegs der erste seit dem Zweiten Weltkrieg, aber der erste europäische unter den Medienbedingungen des nicht mehr jungen 21. Jahrhunderts. Was u.a. heißt, dass Informationskriege, wenn sie heiß sind, überall stattfinden.

Gute Idee zum Beispiel, von der netzpolitik.org berichtet:

"Seit Montag verbreiten Aktivist:innen Botschaften über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch in Reviews von Restaurants und Geschäften in Russland. Das Anonymous-Kollektiv hatte per Twitter dazu aufgerufen, Rezensionen auf Google hinterlassen, um die Zensurmaßnahmen in Russland zu umgehen und die russische Bevölkerung zum Protest aufzurufen."

Die in Russland ohnehin seit langem herrschende Zensur wurde im Krieg nochmals verstärkt. Überblick geben die Reporter ohne Grenzen mit vielen konkreten Beispielen: Nachdem "Berichte über militärische Verluste oder die Truppenmoral (...) bereits seit Oktober der Geheimhaltung" unterlagen, dürfen inzwischen auch die Worte "Krieg", "Angriff" und "Invasion" von berichterstattenden Medien nicht mehr verwendet werden.

Eher einen Überblick über "russische Staatspropaganda" unternimmt Brigitte Baetz im Journalistinnen-Gespräch mit Annika Schneider, die ja auch Altpapier-Autorin ist, bei Deutschlandfunks "@mediasres". (Achtung, Text-Ton-Schere: während der Schrifttext zum Anfang des 20. Jahrhunderts ausgreift, geht's im Audio mit Baetz ums frühe 21. ...). Am Ende sagt Baetz da, "dass ja gerade unsere Vorstellungen von Meinungsfreitheit und -vielfalt uns jetzt in dieser Lage angreifbar machen", und dass "russische Troll-Aktivitäten auch in den Bewertungs-Kommentaren von populären Spielfilmen zurzeit zum Beispiel festgestellt werden können".

Also genau das gleiche Prinzip. Kein Wunder, die Medien- und damit Informations-Infrastrukturen sind global weitgehend ähnlich bis identisch.

Tiktok in einer Reihe mit Apple, Google, Netflix?

Zuhause sind die Plattformen meistens im Westen, zum allergrößten Teil im Westen der USA. Einen Überblick darüber, was diese Plattformen zum ausgebrochenen Informationskrieg inzwischen selber veranlassen, gibt manager-magazin.de, naturgemäß mit vielen Wirtschaftsdaten.

Apple etwa erzielte zwar "im Jahr 2020 in Russland einen Umsatz von drei Milliarden US-Dollar", will aber angesichts von 272 zugleich außerhalb Russlands erzielten Milliarden darauf verzichten, nachdem der stellvertretende ukrainische Premierminister Fedorov einen Brief an Apple-Chef Cook schrieb. Fedorov schrieb zuvor schon via Twitter an Tesla-Chef Musk, der nun sein System namens "Starlink" im angegriffenen Land einsetzt. (Wobei der Nutzen für die Ukraine der "FAZ" fraglich erschien). Und Googles Kartendienst Maps spiele, laut "manager magazin" wiederum, "weltweit ... keine Echtzeit-Verkehrsdaten" mehr aus der Ukraine aus, wie sie sonst zum Vermeiden oder Umfahren von Staus genutzt werden, um keine "Rückschlüsse auf Truppenbewegungen oder Fluchtrouten" zuzulassen. Wobei Routenplanung für Menschen in der Ukraine aber dennoch weiter möglich sein soll. Ob es gelingt, das Angebot für Ukrainer offen zu halten und für Russen, die ja in die Ukraine eingefallen sind, nicht – die Antwort dürfte sich demnächst in Googles Datenmaterial finden.

Weitere Beispiele von Apps und Plattformen, die von allen Seiten benutzt werden und selber Partei ergreifen, sind die App "Premise" (exemplarisch netzpolitik.org) oder Netflix, das sich trotz der gerade begonnenen neuesten "Anna Karenina"-Verfilmung lieber vom russischen Markt zurückziehen wolle als dort Vorgaben, 20 staatliche Sender in sein Programm zu übernehmen, erfüllen wolle ("Standard").

Guten Überblick darüber, wie der Informationskrieg durch geteilte Beiträge der betroffenen Menschen verläuft, gibt Andrea Diener heute auf der "FAZ"-Medienseite (€). Hier zumindest ist die ukrainische Seite klar im Vorteil, da "in der russischen Regierung keine Freunde freier Informationsverbreitung sitzen". Daher nämlich posten die Aggressoren keine selbst gefilmten Handyvideos, sondern allein die Angegriffenen.

In der Reihe der Plattformen, die Auftritte der russischen Staatsmedien RT und Sputnik sperren, wird, oft auch Tiktok genannt. Echt Tiktok? Jawohl.  "Der chinesische Video-App-Dienst TikTok teilte mit, man habe den Zugang russischer Staatsmedien zur Plattform in der EU eingeschränkt", bestätigte die "FAZ" gestern. Das ist ziemlich bemerkenswert. Schließlich wäre unter dem vorigen US-amerikanischen Präsidenten Trump wegen des (keineswegs völlig unberechtigten) Vorwurfs, dass Tiktok sich staatlichen Vorgaben an seinem Unternehmenssitz China fügt, beinahe ein Verbot dieses Netzwerks in den USA verhängt oder ein Verkauf wesentlicher Teile an ein westliches Unternehmen verlangt worden. Und aktuell zählt China nicht zu den materiellen oder ideellen Unterstützern der Ukraine.

Zu weiteren ukrainischen Bitten zählte, wie etwa heise.de meldet, dann noch der "Rauswurf Russlands aus dem Internet", den die für Domain-Kennungen wie ".com", ".de" oder ".ru" zuständige ICANN allerdings ablehnte. Kommunikationsmittel sollten "nicht von inländischen Meinungsverschiedenheiten, internationalen Konflikten oder Krieg betroffen sein", lautet ihr Argument. Tatsächlich versuchen im Regelfall ja eher autoritäre Regime, ihre Netze vom echten, internationalen Internet (und so ihre Bevölkerung von unzensierten Informationen) abzukoppeln. Echtes Internet funktioniert in beide Richtungen.

Weiter unterschiedliche Ansichten zu RT-Medien

Die "Dimension der Desinformation, die RT betreibt", also eines der auf Deutsch wie in vielen anderen Sprachen aktiven staatlich-russischen Propagandamedien, war zuletzt gestern im Altpapier Thema. Es gehe dem russischen Regime "nicht darum, einer Wahrheit eine andere entgegenzusetzen, sondern um die Zerrüttung des öffentlichen Diskurses bei uns", lautet die zentrale These Brigitte Baetz' im eingangs erwähnten DLF-Audio. Die deutschen RT-Angebote, die auf vielen internationalen Plattformen gesperrt werden, ihr Fernsehprogramm weiterhin ausstrahlen, sind weiter ein großes Medien-Thema.

Heute auf der "SZ"-Medienseite beobachten Aurelie von Blazekovic und Timo Posselt am Ende einer ausführlichen Lagebeschreibung, dass "seit Montag" im Liveprogramm "kaum noch aktuelle Berichterstattung" gesendet wird, sondern "Dokus in Dauerschleife" laufen. Was offenbar damit zusammenhängt, dass bei der Videonachrichtenagentur Ruptly, einem weiteren (ebenfalls mit einem englischen Namen bezeichneten) Tochterunternehmen zahlreiche Mitarbeiter kündigen oder "aus politischem Protest krankgeschrieben" seien. Der "Standard" bestätigt das per Reuters-Meldung. Weiterhin etwas unklar erscheinen Meldungen zur Rechtslage um die Ausstrahlung des deutschen RT-Programms. Daher bemüht sich die Berlin-Brandenburger Medienanstalt um Aufklärung und schrieb gestern auf ihrer Webseite:

"Die RT DE Productions GmbH hatte einen Eilantrag mehrfach angekündigt, jedoch bis zum heutigen Tag nicht beim VG Berlin eingereicht. Daher hat sich die mabb am 1. März 2022, einen Monat nach Zustellung des Bescheids, entschieden, ein Zwangsgeld in üblicher Höhe von 25.000 EUR anzudrohen und sogleich die Festsetzung angekündigt, sollte die RT DE Productions GmbH die Veranstaltung und Verbreitung des Fernsehprogramms 'RT DE' nicht bis zum 4. März 2022 einstellen. Der RT DE Productions GmbH steht es nach wie vor frei, einen Eilantrag beim Gericht zu stellen."

Was heißen dürfte, dass, wenn der angekündigte, aber offenbar strategisch verzögerte Eilantrag nun eilig eingeht, der Sender bußgeldlos weitersenden darf, bis die Mühlen des Rechtsstaats mit seinen komplizierten Mediengesetzen gemahlen haben.

Ich selbst hatte hier kürzlich offen gefragt, ob "eine so breite ... Medienlandschaft wie die deutsche, die im Prinzip auf Pluralismus setzt, nicht so etwas wie RT DE einfach aushalten" sollte. Diese Frage stellt sich ja nicht mehr, wenn RT DE-Inhalte seit Wochen oder Jahren als Vorbereitung eines Angriffskriegs erscheinen. Oder doch? Die Reporter ohne Grenzen sind dennoch gegen das (parallel zum deutschen Vorgehen) bereits ziemlich beschlossene EU-weite Verbot der RT-Medien. Sie glauben, dass die negativen Konsequenzen "schwerer wiegen":

"Der Einfluss dieser Medien auf die Meinungsbildung in Europa ist begrenzt, die zu erwartenden russischen Gegenmaßnahmen allerdings könnten eine unabhängige Berichterstattung aus Russland erschweren oder sogar unmöglich machen."

Was ebenso eine Vermutung ist wie die gegenteilige Meinung. "Wie gefährlich diese selektive, mit offiziellen Sprachregelungen versehene Information für die europäische Gesellschaft ist, lässt sich schwer beurteilen", schreibt auch die "Welt" (€). Aufmerksamkeit verdient, zumindest mittelfristig, das neue, kürzlich noch unabhängig vom aktuellen Krieg vorgestellte ROG/RSF-Konzept für "ein System zum Schutz demokratisch verfasster Informationsräume", das "zukünftige Informationskriege ... verhindern" soll:

"Kern ist ein Mechanismus der Gegenseitigkeit (Reziprozität) auf der Grundlage universeller Prinzipien der Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Globalisierung von Nachrichten und Informationen hat zu einem Ungleichgewicht geführt, bei dem sich abschottende Länder ihren Informationsraum kontrollieren, während der Informationsraum in demokratischen Ländern für alle offen und zugänglich bleibt. Diese Asymmetrie ermöglicht es diktatorischen und autoritären Regimen, ihre Propaganda zu exportieren, während sie selbst sich gegen Nachrichten und Informationen abschotten, die unter freien Bedingungen produziert werden."

Heißt ungefähr: Ein ideales Medien-System müsste, wie echtes Internet, in beide bzw. alle Richtungen funktionieren. Gegenüber China, das Russland medieninfrastrukturell und technisch voraus sein dürfte, wäre ein stringentes Konzept für so etwas in der EU oder im ganzen sog. Westen zweifellos sinnvoll.

Verwaltungsgericht stoppt neues NetzDG

Die Infrastrukturen sind international und werden größtenteils, wenn man mal von Spotify absieht, nicht von innerhalb der EU gesteuert. Das führt schon länger zu einer Handvoll medienjuristischer Probleme. Folgende tagesaktuelle Nachricht hätte ohne Krieg sicher größere Aufmerksamkeit bekommen: Die noch von der letzten Merkel-Groko beschlossene, eigentlich seit 1. Februar gültige Erweiterung des NetzDG, wurde vorerst gekippt: Vor dem Verwaltungsgericht Köln haben Google und Meta/Facebooks Irland-Zentralen gegen die Bundesregierung gewonnen.

Die Konzerne haben sich "vor allem gegen eine Weitergabe von Nutzerdaten an Behörden gestemmt, die noch vor der Feststellung einer Straftat zu erfolgen habe" ("Standard"/ Reuters). Damit ist "der zentrale Ansatz der deutschen Politik gegen Hass im Internet" zunächst gestoppt, meint Christian Rath in der "taz":

"An diesem Dienstag kam nun ohne Ankündigung der Eil-Beschluss des VG Köln. Zentrale Aussage: Der deutsche Gesetzgeber habe gegen das Herkunftsland-Prinzip verstoßen, das in der EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr geregelt ist."

Die Bundesregierung kann nun in die nächste Instanz ziehen: vors Oberverwaltungsgericht Münster. Allerdings laufen auch hier ja parallel EU-Bemühungen, dasselbe Thema auf andere Weise mit neuen EU-Gesetzen, in diesem Fall durch den in den EU-Institutionen weiterhin beratschlagten "Digital Services Act", zu regeln.

Dass in jedem Mitgliedsland, teilweise in jedem Bundesland eines Mitgliedslandes unterschiedliche Medien-/Internet-Gesetze künftig durch zentrale, besser durchsetzbare EU-Gesetze geregelt werden, die freilich auch pauschaler sein werden, als es vielen lieb sein dürfte, könnte eine weitere Folge des laufenden Krieges sein.


Altpapierkorb (neue Chefredakteurin bei wichtigem Medienmedium, Wolodymyr-Selenskyj-Serien auf Arte, ARD "bedingt berichtsbereit"?)

+++ Wichtige Personalie bei einem der (auch wenn klassische Ressortzuschnitte das weiterhin nicht spiegeln) wichtigsten Medienmedien: Markus Beckedahl, der Gründer von netzpolitik.org, der den "1-Mann-Blog" zum "12,5 Vollzeitstellen" starken Portal ausbaute, bleibt zwar dabei, zieht sich aber als Chefredakteur zurück und wird gefolgt von Anna Biselli – sowie noch jemandem, die oder der noch gesucht wird.

+++ Oh, die (zuletzt gestern hier erwähnte) ukrainische Fernsehserie "Diener des Volkes", durch die der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj vor allem bekannt wurde, ist bereits seit November in Artes Mediathek zu sehen. ("Tagesspiegel"/dpa).

+++ Soll sich eher die ARD darüber ärgern, dass derzeit "private Radiosender ohne eigene Korrespondenten ... beim öffentlich-rechtlichen Korrespondenten anfragen, ob er nicht ein kostenloses Telefoninterview geben könnte", oder andere, private Medien darüber, dass die ARD "derzeit nur bedingt berichtsbereit" ist und aus der Ukraine vor allem Journalisten anderer Medien befragt? Diese Frage wirft medieninsider.com auf.

+++ Und die aktuelle Brenner-Stiftungs-Studie "Das Verblassen der Welt/ Auslandsberichterstattung in der Krise", ebenfalls gestern hier erwähnt, ist auch Thema der "taz" und war es ausführlicher bei "Telepolis", das weitere Probleme (etwa, dass selbst für Arte-Dokumentationen zu Auslandsthemen inzwischen "ein detailliertes Drehbuch" erst vorgelegt und wie abgesegnet dann verfilmt werden muss) benennt.

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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