Teasergrafik Altpapier vom 28. Februar 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 28. Februar 2022 War is over (if you want it)

28. Februar 2022, 09:17 Uhr

(Informations-)Krieg, fünfter Tag, mit vielen Verlusten auf allen Ebenen: Über parallele Realitäten, die sich stark unterscheiden. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Die Zeitenwende

Fünfter Kriegstag, vierte Kriegsnacht in der Ukraine. (Dass Kriegshandlungen stets nachts beginnen, wenn die Menschen schlafen, ist ein besonders widerwärtiger Fakt.) Wie viele Tote es bislang auf beiden Seiten gab, konnte noch nicht verlässlich eruiert werden, Präsident Putin hat seine (Atom)Kräfte "in Alarmbereitschaft" versetzt, es wurden von Seiten der EU weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Russland angekündigt, Deutschland wird Waffen in die Ukraine liefern, und Olaf Scholz verspricht in seiner Regierungserklärung, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufzurüsten, um sie "leistungsfähig" zu machen.

"Das Wort Zeitenwende erlebt eine Inflation", stellt Theo Koll in "Berlin direkt" am Sonntagabend fest, nachdem nicht nur Olaf Scholz es benutzt hat. RTL sagt lieber "Wasserscheide". Aber noch immer wütet der Krieg nicht nur auf den Straßen und in den Häusern, sondern auch auf Informationsebene, und damit in den Medien. Lutz Güllner, Leiter der EU-Taskforce, die gegen russische Desinformationskampagnen kämpft, wurde bereits am Freitag hier im Altpapier zitiert, mit der traurigen Beobachtung einer schon lang verstorbenen Wahrheit. Einen Tag später sagt er in einem "Spezial" des ZDF auf die Frage, wer Wladimir Putins Propaganda überhaupt glaubt:

"Ich weiß nicht, wer ihm glaubt, wichtig ist aber, dass es passiert. Und es ist auch nicht seit gestern erst, sondern seit Jahren. Spätestens seit der Annexion der Krim haben wir in den Kremlmedien immer wieder die Erzählung gesehen, in der Ukraine seien Nazis, das Land ist korrupt, das ist sowieso Teil Russlands. (…) Und das sollte auch eine klare Nachricht in den Westen sein, dass dieses Land eigentlich gar keine Unterstützung verdient."

Die unterschiedlichen Erzählungen Russlands

Jene Nachricht war anscheinend lange Zeit zwar inhaltlich gar nicht hier angekommen, aber ganz in Putins Sinne hatte es dennoch kaum Konsequenzen aus dem Westen gegeben. Dass so lange in Richtung Großmacht Russland operiert werden konnte, lag also zunächst an einer westlichen Ignoranz gegenüber der Ukraine, weniger am Glauben an die "Erzählung" Russlands. (Und wenn man darüber hinaus bedenkt, wie viele Menschen gerade in den letzten Jahren tatsächlich mit Freuden Falschmeldungen über alle möglichen Dinge aufgesessen sind oder noch immer aufsitzen, dann muss man sich noch mehr freuen, dass die Solidarität mit der Ukraine hier und europaweit zum Glück gerade riesengroß ist.)

Wobei, ich will ja jetzt keine Korinthen kacken, "riesengroß" mal wieder für die typisch relativen Zahlen in der Berichterstattung sorgt: "Über 500 000 Menschen" seien am Sonntag in Berlin gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gegangen, schreibt die taz, und bezieht sich dabei vermutlich auf Veranstalterangaben. In den Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender war konsequent von "über 100 000 Menschen" die Rede. Kam einem jedenfalls sehr voll vor. (Und man fragt sich kopfschüttelnd, wie und ob angesichts dieses dringlichen Anlasses tatsächlich immer noch irgendwo im Land Menschen gegen eine angebliche "Impfdiktatur" auf die Straße gehen werden…)

Weil die Informationsbeschaffung und -weitergabe so extrem wichtig ist, schaltete das ZDF am Sonntagabend die ukrainische Nachrichtenmoderatorin Solomiya Vitvitska ins heute-Journal. Sie erzählte, dass in der Ukraine jetzt alle Sender gemeinsam 24 Stunden lang berichten, die Konkurrenz sei aufgehoben. (Die Lebensgefahr durch die Kriegssituation und auch die Sperrstunde macht das Berichten natürlich generell problematisch bis unmöglich.) Die Journalistin kommentiert ebenfalls die "unterschiedlichen medialen Erzählungen":

"Wie kann es sein, dass man in dieser Zeit einerseits so viele Informationen finden kann, aber es gleichzeitig in Russland so viele parallele Realitäten gibt?"

Der politische Lifestylesender

Das Phänomen mit den beiden unterschiedlichen medialen Erzählungen wird darüber hinaus sehr passend und gruselig aktuell im NDR/BBC-Dokumentarfilm "F@ck This Job" aufgegriffen, der heute Abend in der ARD läuft, und ohnehin in der Mediathek zu sehen ist. Die russische Journalistin Wera Kritschewskaja erzählt darin die Geschichte des russischen Fernsehsenders Doschd – dem anscheinend letzten unabhängigen TV-Senders des Landes, der längst nach Repressalien und Anfeindungen nur noch online sendet. Das Interessante ist seine Genese: Gegründet wurde er 2008 von der russischen Radiojournalistin Natascha Sindeewa, die, wie der Film leichtfüßig berichtet, sich selbst mit dem Geld ihres reichen Ehemanns aus reinem Spaß an der Freude unter dem Motto "Optimistic Channel" einen eigenen Fernsehsender buk. "Ich wollte einen Lifestylesender mit kulturellem Touch", sagt die party- und tanzfreudige Sindeewa, die das Logo des Senders und ihr Auto in ihrer Lieblingsfarbe Pink mag.

Gestartet als eine Art wackeliges Bürgerprogramm mit vielen Talks und viel Gekicher, habe man 2010 gemerkt, dass über die U-Bahn-Anschläge in Moskau bei den staatlichen Sendern überhaupt nicht berichtet wurde. Doschd fuhr jedoch fort, dies zu tun, und entwickelte sich immer mehr zu einem regierungskritischen Sender – erst recht nach der Wahl Putins in dessen dritte Amtszeit als Präsident 2012. Stärker und stärker klafften die erlebte, beobachtete Realität und die (im Staatsfernsehen) berichtete Realität auseinander, erklärt Kritschewskaja im Film: "Es fühlte sich so an, als würden wir in zwei verschiedenen Ländern leben".

Ein lohnenswerter Film. Unabhängige Medien sind in Russland mittlerweile fast komplett verboten, beschreibt die taz hier die Realität in dem Land, auch Doschd könnte es bald treffen:

"Russlands mediale Aufsichtsbehörde "Roskomnadsor" mahnt die letzten unabhängigen russischen Medien, Gebrauch und "Verbreitung von unverlässlichen, für die Öffentlichkeit bedeutenden Informationen" zu vermeiden. Zu diesen Medien zählt die "Nowaja Gaseta", die am Tag des Überfalls in einer russisch-ukrainischen Ausgabe erschien. Darüber hinaus wurden auch Rundfunksender Echo Moskau verwarnt, der TV-Sender Doschd, der unabhängige Medienbeobachter Mediazona und die "New Times". Echo Moskau warnt in einem Jingle die Hörer halbstündlich davor, unbestätigten Informationen Vertrauen zu schenken. Begriffe wie "Überfall", "Kriegserklärung" und "Invasion" sind seit Ende letzter Woche verboten."

Das MiniWahr

Und natürlich kann es auch keine menschlichen Verluste geben, wo gar keine Invasion existiert:

"Die Nowaja Gaseta wandte sich über Telegram an das Ministerium mit der Bitte, Verlustzahlen während des Einmarsches bekannt zu geben. ‘Wenn wir Ihre Informationen veröffentlichen sollen, müssen Sie uns diese zugänglich machen‘, schrieb die Zeitung am Freitag. Das Schreiben wurde vom Ministerium nicht beantwortet."

Und woran erinnert das effektive Bereinigen einer Sprache von "schädlichen Begriffen", und das bewusste Desinformieren beziehungsweise Propagieren der Unwissenheit, wenn man mal ehrlich, fatalistisch und pessimistisch ist?

"Das Ministerium für Wahrheit – MiniWahr in Neusprech – unterschied sich auffallend von allem, was man sonst sah. Es handelte sich um ein riesiges, pyramidenartiges Bauwerk aus leuchtendweißem Beton, das sich, Terrasse um Terrasse, dreihundert Meter hoch in die Luft schraubte. Von dort, wo Winston im Augenblick stand, konnte man gerade noch die drei Parolen der Partei erkennen, die sich in eleganter Schrift von der weißen Fassade abhoben:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE"

Tja. (Hier nochmal in Gänze, falls jemand es nicht mehr im Kopf hat.)

Jenes Phänomen der beiden unterschiedlichen Länder beziehungsweise Realitäten, das im aktuellen Krieg so wichtig ist, berührt das Thema Informationsrevolution: Dass elementare Informationen nicht vermittelt werden, liegt nicht mehr nur am potenziellen Desinteresse oder einer schwachen Infrastruktur, sondern manifestiert sich in einem Land wie Russland, in dem eigentlich eine Informations- und Nachrichtenstruktur vorhanden wäre, vor allem in den Bereichen Unabhängigkeit und Digitalisierung. Wenn lineare Medien nicht mehr unabhängig sind, könnte die Information theoretisch immer noch auf soziale Medien ausweichen. Doch in Russland ist die Generationenlücke besonders groß: Es hat eine der ältesten Populationen der Welt, und tendenziell nimmt auch dort – wie überall auf der Welt – der Nutzen von sozialen Medien mit dem Alter ab.

Der mediale Gegenschlag

Was nicht bedeutet, dass die (bekanntlich aus alten weißen Männern bestehende) russische Regierung umgekehrt die Kanäle nicht nutzen würde. Darauf hat Facebook jetzt mit Einschränkungen reagiert, schreibt der Tagesspiegel:

"Man sei dabei, russische Staatsmedien daran zu hindern, in dem sozialen Netzwerk weltweit Anzeigen zu schalten oder dort Geld zu verdienen, gab der Sicherheitschef bei Facebook, Nathaniel Gleicher, am Samstag auf Twitter bekannt. Twitter wiederum blockiert bis auf weiteres Werbeanzeigen in Russland sowie in der Ukraine. So wolle man sicherstellen, dass wichtige Informationen zur öffentlichen Sicherheit hervorgehoben werden, hieß es. Werbung lenke davon ab."

Und jetzt, quasi als endgültige Idee eines medialen Gegenschlags: Nach einem Bericht vom RND will die EU die russischen Staatsmedien RT und Sputnik verbieten:

"Diese würden nicht länger in der Lage sein, Lügen zu verbreiten, um den Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine zu rechtfertigen und Spaltung in der EU zu säen, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Brüssel. Man wolle die "Medienmaschinerie des Kremls" aus der EU verbannen. Man entwickle Werkzeuge, um ‘ihre giftige und schädliche Desinformation in Europa zu verbieten.‘"

Puh. Dass sich der Chef der Russlandredaktion der Deutschen Welle, ein Sender der bekanntlich schon seit Anfang Februar von einem Sendeverbot in Russland betroffen ist, übrigens von dem Begriff "Informationskrieg" distanzierte, ist in dem Zusammenhang ein denkwürdiges Detail: Er sei Journalist, sagte Christian Trippe am Samstag im Medienmagazin von RadioEins (hier der Podcast), kein Kombattant, und sähe seine Rolle nicht als die eines Kämpfers, sondern als jemand, der einfach nur so ausgewogen informiert wie es nur geht. Was die Sache auf den Punkt bringt.

Und heute Morgen sollen angeblich Friedensverhandlungen beginnen…


Altpapierkorb (... mit Harald Martenstein und Rosanne Rocci)

+++ Der Kolumnist Harald Martenstein schreibt seit Sonntag nicht mehr für den Tagesspiegel, sondern für die Welt, meldet die Sueddeutsche. (Die ganze Vorgeschichte hier und hier in diversen Altpapieren.) Und wer sich selbst ein Bild von Martensteins Eigenwahrnehmung als "Opfer einer woken Ideologie" machen möchte: Hier.

+++ Und noch eine bunte Meldung, obwohl, so bunt ist sie eigentlich nicht… kommt einem nur momentan so vor… Die Schlagersängerin Rosanne Rocci nahm nicht an einer Aufzeichnung für eine ARD-Quizshow teil, weil sie keinen Coronatest machen wollte. Ihr Schnelltest sei nicht akzeptiert worden, sie sei "allergisch" gegen einen Nasen-Rachen-Abstrich, begründete sie ihre Weigerung. Auf dieses Verhalten reagierten die gesetzlich geltenden Bestimmungen sozusagen ebenfalls allergisch: Sie wurde gebeten, das Studio zu verlassen.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.

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