Das Altpapier am 25. Februar 2022 Potemkinsche Sender
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25. Februar 2022, 12:29 Uhr
Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Informationskrieg. Russland arbeitet mit Troll-Armeen und absurden Erzählungen. Der Versuch eines Überblicks. Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Desinformation Masterclass
Wenn im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, dann ist die Frage jetzt, seit wann die Wahrheit schon tot ist. Lutz Güllner, Desinformationsexperte und Leiter des Referats strategische Kommunikation beim Europäischen Auswärtigen Dienst, hat den Eindruck, dass sie schon länger nicht mehr lebt. Verantwortlich dafür seien vor allem russische Staatsmedien wie der Putin-Kanal RT, früher Russia Today, der seine Programme in Europa in mehreren Sprachen verbreitet.
Im Interview mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" (zweiter Audio-Beitrag auf der Seite) sagt Güllner wörtlich: Das "Schockierende ist tatsächlich, dass eben nicht die Wahrheit im Krieg gestorben ist, sondern dass die Wahrheit eigentlich schon seit Jahren auf diesen Portalen gestorben ist."
Diese "Erzählung durch dieses Desinformationssystem" werde seit Jahren vorangetrieben. Die Informationsportale hingen teilweise direkt mit dem russischen Geheimdienst zusammen. Man spreche der Ukraine seit Jahren das Existenzrecht ab. Man verwendet das Wort "Junta", das Wort "Nazi", es sei die Rede vom totalen Chaos. "Ich wäre grundsätzlich ganz vorsichtig mit Informationen, die aus diesem System herauskommen", sagt Güllner (erster Audiobeitrag). Das sei alles länger dokumentiert, und nun werde es auf eine offizielle Ebene gehoben. Güllner (erster Beitrag):
"Wenn Sie heute auf RT, auf Russia Today gucken, ich lese Ihnen nur mal eine der Headlines vor: 'Putin beginnt militärische Sonder-Operation zum Schutz des Donbass und der Entnazifizierung der Ukraine.' Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist ein sogenanntes Medium, das angeblich Informationen und Nachrichten verbreitet. Das hat damit nichts mehr zu tun."
Spiegel-Redakteur Anton Rainer hat Einiges davon bei Twitter dokumentiert.
"Jetzt ein simultan übersetztes Gespräch mit der Sprecherin des russischen Außenministeriums. RT nennt dieses Format 'Interview', aber man hört keine Fragen, nur lange, mäandernde Antworten."
An anderer Stelle erklärt ein Moderator, was da in der Ukraine gerade vor sich geht. Rainer:
"Jetzt werden de facto Pressemitteilungen aus dem Kreml vorgelesen: 'Keine Gefahr für die Zivilbevölkerung'. Niemand sagt Krieg, weil es Sonderoperation heißt. Moderatoren sind in erster Linie dazu da, Putins Rede-Schnipsel anzukündigen.
Und es gibt Live-Schalten, die lediglich den Haken haben, dass sie nicht live stattfinden. Rainer:
"Korrespondenten werden 'zugeschaltet', dabei handelt es sich jedoch um übersetzte, aufgenommene Schnipsel, die schon seit Stunden über den Äther laufen. Darin ist die Ukraine der Aggressor."
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erscheint heute in einem Layout, das offenbar speziell für historische Ereignisse gedacht ist. Michael Hanfeld hat für die Berichterstattung über die potemkinschen Sender heute fast die komplette Medienseite freigeräumt. Er schreibt über RT (€):
"Dessen englischsprachiges, internationales Programm, das zum Beispiel bei Facebook abgerufen werden kann, und die deutschsprachige Ausgabe RT DE mit eigener Website und Videos gestalten ihr Programm exakt so, dass es zu Putins Legende passt: Der Angreifer wird zum Opfer, das Opfer zum vermeintlichen Aggressor, dämonisiert – und als 'Nazi-Regime' ausgegeben."
Gleiches Spiel bei RT France. Jürg Altwegg schreibt für die FAZ (€):
"Den ganzen Tag über defilieren im Studio die unsäglichsten Putin-Versteher und französischen Freunde Russlands. Der Anwalt Jean-Claude Beaujour unterstreicht die Demütigungen, die man Putin zugefügt habe. Die Ukrainer seien Marionetten der NATO und Amerikas, den Preis für den Krieg aber bezahlten die Europäer: 'Die Amerikaner organisieren die Wirtschaft und das Chaos in Europa.'"
Warum RT DE noch sendet
In Frankreich läuft seit etwa zwei Wochen ein Verfahren gegen RT France, wie Deutschlandfunk-Korrespondentin Christiane Kaess in dem oben schon erwähnten "@mediasres"-Beitrag berichtet. Dahinter stehe eine Vereinigung mit dem Namen "Mediendemokratien Europa", die sich nach eigenen Angaben aus etwa zehn kremlkritischen Personen zusammensetzt. Sie erhofften sich von Frankreich Sanktionen und damit auch eine Signalwirkung.
Der französische RT-France-Moderator Frédéric Taddeï hat seine Sendung wegen des Ukraine-Konflikts nun selbst ausgesetzt, berichtet Christiane Kaess. In einem kurzen Einspieler begründet er das wie folgt:
"In einem Moment, in dem sich Frankreich in einem offenen Konflikt mit Russland befindet, kann ich diese Sendung nicht weitermoderieren, aus Loyalität gegenüber meinem Land."
In London hat die britische Kulturministerin Nadine Dorries der Medienaufsichtsbehörde in einem Brief geschrieben, RT sei "nachweislich an der globalen Desinformationskampagne des Kreml beteiligt", berichtet Gina Thomas für die FAZ (€). Gleichzeitig habe Dorries von der Behörde "frühzeitige und transparente Maßnahmen" gefordert, um Russland die Möglichkeit zu nehmen, ihre Propaganda zu verbreiten. Nur lässt sich das in einer Demokratie nicht so einfach verordnen.
Warum RT DE in Deutschland immer noch sendet, obwohl die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) dem Sender das Anfang Februar verboten hatte, erklärte Michael Hanfeld in einem Kommentar am Mittwoch:
"Gegen das Verbot hat RT DE Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin eingereicht und einen Eilantrag angekündigt. Dieser hätte aufschiebende Wirkung. Die für die Lizenzvergabe zuständige Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) wartet ab. So liegt die Sache also beim Verwaltungsgericht. Darauf kann kein Bundeskanzler und kann keine Außenministerin Einfluss nehmen."
In Putinistan geht so etwas schneller. Hanfeld sieht hier den "Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem Willkürsystem". Das Moskauer Büro der Deutschen Welle ließ sich ganz umstandslos schließen (zuletzt hier im Altpapier). Man nahm den Journalistinnen und Journalisten ihre Akkreditierungen. Fertig.
Der Medienjournalist Daniel Bouhs stellt bei Twitter die Frage, ob die Schließung vielleicht schon "Teil der laufenden Strategie war – in einer Zeit, die nicht zuletzt auch von einem Informationskrieg geprägt ist". Das erscheint nicht so unwahrscheinlich.
Das Narrativ von den Nazis
Die Fülle an Information ist so groß, dass Desinformation ideal gedeiht. Hier kommt die alte Strategie zum Einsatz. Desinformationen nicht nur einfach durch das Streuen von falschen Informationen, sondern durch das Fluten mit, Pardon, Scheiße (Idee: Steve Bannon).
Thomas H. Kaspar, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, meldet bei Twitter, "dass Pro-Putin-Trolle und Bots die Kommentarspalten unserer Auftritte in den sozialen Medien überschwemmen".
Der Angriff bringt das Community-Management der Zeitung an seine Grenzen. "Da z.B. @Facebook ein Löschlimit von 10.000 Kommentaren pro Tag hat, können wir dem massiven Angriff nicht mehr Herr werden", schreibt Kaspar. Und das dürfte nur ein kleiner Ausschnitt dessen sein, was sich in diesem Informationskrieg momentan abspielt.
Das Recherchezentrum Correctiv hat eine Liste mit Falschinformationen und Gerüchten erstellt und erklärt, was dahinter steckt. Um die Falschinformationen hier nicht zu wiederholen: Russland hat die Ukraine angegriffen. Zivilisten droht Gefahr. In Luhansk ist ein Kindergarten bombardiert worden.
Desinformation entsteht auch dann, wenn man Fotos oder Videos in einen falschen Zusammenhang setzt. Eva Wackenreuther, Faktencheck-Ressortleiterin bei der Nachrichtenagentur AFP, hat bei Twitter Beispiele dafür zusammengestellt.
Zu sehen sind etwa Videoaufnahmen eines Feuers in China, das nun als Kraftwerksbrand in Luhansk ausgegeben werde, ein manipuliertes Bild von US-Außenminister Anthony Blinken, ein gefälschter Ausschnitt von CNN, eine mindestens zwei Jahre alte Aufnahme von Militärjets, die eine Stadt überfliegen, oder ein acht Jahre altes Video eines Panzers in der Ukraine, das nun unter anderem bei Twitter als vermeintlich aktuelles Material verbreitet werde.
Der ARD-Faktenfinder hat zurzeit ebenfalls gut zu tun. In einem aktuellen Beitrag über den Vorwand der "Entnazifizierung" kommt unter anderem die Publizistin Marina Weisband zu Wort, die in der Ukraine geboren wurde, und deren Familie dort immer noch lebt. Sie sagt:
"Der aktuelle Präsident ist russischsprachiger Jude, was das Narrativ von Nazis, die Russischsprachige unterdrücken, noch viel lächerlicher macht. Gegen seine Desinformation hilft nur ebenso offensive Aufklärung, was man im Westen bislang verpasst hat."
Nützlich dabei ist die Auswahl von verlässlichen Quellen. Die Zeit-Online-Redaktion hat eine Liste mit Twitter-Accounts von Fachleuten und Berichterstattenden zusammengestellt, die verlässliche Informationen liefern. Martin Fehrensen vom Social-Media-Watchblog empfiehlt Links zu Werkzeugen, mit deren Hilfe man sich bei der Online-Recherche schützen kann.
ARD-Nachrichtenkanal nicht notwendig?
Medien können zur Aufklärung einen Beitrag leisten. Daniel Bouhs beschreibt seinen Eindruck von der Berichterstattung bei Twitter. Über die Arbeit der ARD-Korrespondentin Ina Ruck schreibt er: "Souverän, authentisch, informiert. Was für ein Geschenk eine Korrespondentin" wie sie doch sei. Dazu verlinkt er einen Beitrag von Tagesschau24, dem Sender, der im laufenden Betrieb zu einem Live-Nachrichtensender umgebaut wird. Bouhs sieht eine "steile Lernkurve". Auch das ZDF-Morgenmagazin habe "unter dem Strich einen guten Job gemacht heute früh", urteilt Bouhs. Was der Sendung gefehlt habe: "Bilder und Grafiken – zu wenig. Zu viel Talk, Radio mit Bild. Auch da ginge mehr." Und im Gesamtbild: Die "vielfältige Medienlandschaft" sei ein Geschenk.
"@ProSieben + @sat1 hatten bereits einen Schwerpunkt um 20:15 in beiden Sendern. Gerade sendet @RTLDE_Corporate + @ntvde eine Sonderstrecke – mehr als früher. Wer will, wird vielerorts ordentlich informiert",
schreibt Bouhs. Braucht es denn da überhaupt noch einen öffentlich-rechtlichen Live-Nachrichtensender?
Mit dieser Frage beschäftigt sich Helmut Hartung auf Medienpolitik.net. Die Antwort steht schon in der Überschrift: "Keine Notwendigkeit für einen ARD-Nachrichtenkanal". Hartung leitet seine Einschätzung aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts her. Das Gericht hatte im Jahr 2014 befunden, der freie Markt allein sorge nicht für publizistische Vielfalt. "Die aktuelle Berichterstattung der letzten Tage in den privaten Bewegtbildmedien zeigt aber, dass ein 'Marktversagen' nicht vorliegt", schreibt Hartung.
Im Gegenteil bauten RTL und ProSiebenSat.1 ihr Informationsangebot aus. RTL habe im Sommer 2021 eine Nachrichtenoffensive mit neuen Formaten gestartet und diese Berichterstattung täglich um zwei Stunden erweitert. ProSiebenSat.1 etabliere wieder eine eigene News-Redaktion mit mehr als 60 Mitarbeitenden, die ab 2023 alle Programme der Sendergruppe mit eigenen Nachrichten versorgen soll. Zudem seien in den vergangenen Monaten neue informationsorientierte Sendungen entwickelt worden. Darüber hinaus produzierten 'Welt' und n-tv einen 24-Stunden-Newskanal. Dazu kämen die Online-Angebote der Tageszeitungen, die ihr aktuelles Bewegtbildmaterial erweitern. Weder "medienpolitisch noch verfassungsrechtlich" ergebe sich eine Legitimation für einen ARD-Nachrichtenkanal, schreibt Hartung.
Und damit zum…
Altpapierkorb (Südwestdeutsche Medienholding, Reichelt TV, Machtkampf im BDZV)
+++ 227 Beschäftigte von neun Zeitungen der Südwestdeutschen Medienholding, unter anderem der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten, haben Geschäftsführer Christian Wegner einen zweieinhalb Seiten langen Brief geschrieben, in dem sie den Stellenabbau und die "historische Umwälzung" kritisieren, schreibt Josef-Otto Freudenreich für die Wochenzeitung Kontext. Der Verlag hat 55 Stellen gestrichen und seinen Redaktionen auch sonst einiges verordnet, was nach Einschätzung der Unterzeichnenden alles nur noch schlimmer macht. Freudenreich schreibt, der Brief sei "voller nie dagewesener Bitterkeit. Ein Manifest gegen eine Managerriege, die in ihren Augen (und die sehen es klar) alles zerschlägt, was diese Zeitungen einmal ausgemacht hat: die Qualität, die Köpfe, der Anspruch".
+++ Julian Reichelt bastelt im "Cicero"-Podcast mit Alexander Marguier weiter an der Legende, eine "Vernichtungskampagne" habe ihn seinen Job als "Bild"-Chefredakteur gekostet. Und er kündigt an, einen Fernsehsender gründen zu wollen.
+++ Marvin Schade kommentiert für das Medienmagazin "Medieninsider" (€) den Machtkampf im Zeitungsverlegerverband BDZV (Altpapier). Er adressiert Verbandspräsident Mathias Döpfner, Funke-Verlegerin Julia Becker und Madsack-Chef Thomas Düffert dabei direkt und schreibt, Döpfner nehme niemand mehr ab, dass seine Propaganda-Assistenten-SMS ironisch gemeint gewesen sei. Funke-Verlegerin Julia Becker nehme niemand ab, dass es ihr um das "Ansehen der Branche und Werte im Journalismus" gehe. Und Madsack-Chef nehme niemand ab, dass es ihm um konstruktive Zusammenarbeit gehe. To be continued.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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