Das Altpapier am 24. Februar 2022 Das Spekulieren hat ein Ende
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24. Februar 2022, 10:10 Uhr
Die von vielen Medien kolportierten Prognosen sind eingetroffen: Russland hat die Ukraine angegriffen. Bei der Enttarnung von Putins Kriegspropaganda leistet das Netz wertvolle Hilfe. Und: Der Stuhl von BDZV-Präsident Döpfner wackelt vielleicht doch. Ein Altpapier von Annika Schneider.
Fakten vs. Spekulation
In der taz-Redaktion hatten sie vermutlich nicht damit gerechnet, dass ihre Titelfrage so schnell beantwortet werden würde: "Ist Putin noch zu stoppen?", fragt das Blatt auf Seite 1 der heutigen Ausgabe. Die Antwort lautet am Morgen nach Druckschluss: Nein. Nachdem eine Invasion Russlands in der Ukraine sich als drohendes Szenario immer deutlicher abzeichnete, hat Putin ernst gemacht und die Ukraine angegriffen, die daraufhin landesweit den Kriegszustand ausrief.
Die meisten Menschen dürften in den vergangenen Tagen vor allem zwei Fragen beschäftigt haben. Die erste lautet: Wie weit wird Putin gehen? Er selbst spart nicht mit martialischer Rhetorik: Falls das Ausland interveniere, sei mit "Konsequenzen, wie man sie noch nicht gesehen hat," zu rechnen, zitiert ihn "Spiegel online".
Journalistinnen und Journalisten haben tagelang Putins Reden analysiert, Truppenbewegungen eingeordnet, die Geschichte der Ukraine nachgezeichnet, in Kraft getretene und angedrohte Sanktionen erklärt, Vergleiche mit ähnlichen Konflikten gezogen, Einschätzungen von Fachleuten und Akteuren erfragt und vieles mehr. Lange haben die Medien das Thema also schon spekulativ umkreist – nun fällt den Redaktionen die Aufgabe zu, die Umsetzung des Befürchteten und Prognostizierten zu vermelden.
Neben der Berichterstattung über die militärischen Gefechte ist es für Medien in den kommenden Tagen vor allem wichtig, russische Propaganda weiterhin konsequent als solche zu entlarven. Anh Tran schrieb am Dienstag in einem @mediasres-Text:
"Es kursieren so viele Falschinformationen, dass seriöse Medien kaum noch hinterherkommen, Meldungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen."
Und da Propaganda Teil jeder Kriegsstrategie ist, wird der Kreml auch in den kommenden Tagen viel streuen, was nicht der Wahrheit entspricht. Wie die Regierung in Moskau die Invasion im eigenen Land kommunikativ vorbereitet hat, hat Lina Verschwele für "Spiegel online" beobachtet. Sie hat einen Tag lang die Nachrichten- und Talksendungen im russischen Staatsfernsehen reportiert, mit Eindrücken wie diesen:
"In den Nachrichten auf NTW feiern Menschen vor der Kamera die Anerkennung der ‚Volksrepubliken‘ durch Russland. Einer spricht mit großen Augen und weit aufgerissenem Mund, nur der Ton ist seltsam trocken. Weder die Umstehenden noch der Straßenlärm sind zu hören. Offenbar ist die Szene im Studio nachgesprochen."
Schwarmintelligenz vs. Falschmeldungen
In der deutschen Medienlandschaft ist RT DE, Ableger des russischen Auslandssenders, nach den jüngsten Querelen (Altpapier) wohl das prominenteste Verlautbarungsorgan der Kreml-Sicht, aber längst nicht das einzige. Eine Studie der Wissenschaftlerin Susanne Spahn, langjährige Beobachterin von RT DE, listete 2020 unter anderem die Sputnik News Agency (SNA) sowie die Videoagentur und RT-Tochter Ruptly TV und deren Tochterfirma Redfish GmbH auf (die Redfish-Seite ist einen Blick wert – ja, so können russische staatsnahe Medien auch aussehen!). Hinzu kommen die Einrichtungen, die als "Trollfabriken" bekannt wurden.
Felix Huesmann berichtete beim RND diese Woche außerdem über ein neues Medium, das im Oktober auf mehreren Social-Media-Plattformen auftauchte und im Verdacht steht, ebenfalls Teil der russischen Staatsmedien zu sein. "Infrarot Medien", wie das Angebot heißt, werde vom ehemaligen Chefredakteur von RT DE, Ivan Rodionov, geleitet, und zwar von einem Hinterhof in Berlin aus.
"Gemeinsam mit den beiden ehemaligen RT-DE-Mitarbeitern Arthur Buchholz und Jens Zimmer produziert Rodionov dort seitdem Videos, die sich in Inhalt und politischer Ausrichtung kaum von dem unterscheiden, was zuvor bereits Jahre lang bei RT DE zu sehen war",
schreibt Huesmann. Twitter hat "Infrarot Medien" bereits mit dem Label "Staatsnahe Medien in Russland" versehen. Dass diese Einschätzung stimmt, dafür nennt Huesmann noch ein weiteres Indiz:
"RT DE bewirbt den Infrarot-Youtube-Kanal bereits Ende Oktober auf Telegram. Bis Anfang Februar teilt RT DE dort insgesamt zwei Dutzend Mal Videos von Infrarot Medien."
Was RT DE und nun vielleicht auch Infrarot Medien tun, ist Susanne Spahn zufolge vor allem die Propagierung einer bestimmten Weltsicht, die der russischen Regierung in die Karten spielt – das ist nicht das Gleiche wie plumpe Desinformation.
Die gibt es im Netz aber natürlich auch zuhauf. Zum Glück finden sich in sozialen Netzwerken nicht nur massig Falschinformationen, sondern auch die Werkzeuge, um dagegen vorzugehen. Moritz Baumstieger berichtet in der "Süddeutschen Zeitung" (€), dass Falschmeldungen bei sozialen Medien eben nicht nur das Potenzial haben, viele Menschen zu erreichen, sondern auch von vielen Menschen hinterfragt und geprüft werden. Konkret engagiere sich dabei
"eine immer größer werdende Gruppe von Hackern, Aktivisten, Waffennarren, Nerds, Bürgerjournalisten, Ex-Militär. Osint – Open Source Intelligence – nennt sich diese Art der Netzforensik, die Waffentypen analysiert, Nachrichten verifiziert – oder eben Propaganda falsifiziert."
Eine wichtige Rolle bei den Faktenchecks spielt das im SZ-Artikel erwähnte Recherchekollektiv Bellingcat, dem der britische Ex-Offizier Nick Waters angehört. Seine Einschätzung der Lage ist eher entmutigend:
"Dass der Krieg um die Deutungshoheit trotzdem kaum zu gewinnen ist, weiß Waters. Viele der unzähligen Falschbehauptungen damals und heute seien amateurhaft gemacht, leicht zu widerlegen. "Aber sobald sie veröffentlicht sind, werden sie in den sozialen Medien herumgereicht, von 'Lokalmedien und Propagandakanälen wie RT präsentiert – und zwar als Wahrheit.' Der Kreislauf der Fake News ist kaum zu durchbrechen, beim Beispiel Syrien habe man gesehen, dass Desinformation weder akkurat, glaubwürdig noch stimmig sein müsse, um zu wirken."
Anders gesagt: Bei der Produktion von Propaganda müssen sich die Urheber noch nicht einmal besonders viel Mühe geben, um eine Wirkung zu erzielen (siehe auch das Beispiel mit dem nachgesprochenen Ton weiter oben).
Das wirft wieder einmal die Frage auf, wieviel Überzeugungsarbeit Faktenchecks überhaupt leisten können. Andererseits könnte die Geschichte manch entlarvter Propaganda so einprägsam sein, dass sie – gut verkauft – selbst zur Story wird und somit zur Aufklärung beiträgt.
Ein Beispiel: Der NZZ-Journalist Forrest Rogers, der sich bei Twitter "Open Source Intelligence Reporter" nennt, sammelte am Dienstag in einem Thread Fotos von Armbanduhren, die bei der Sitzung des Moskauer Sicherheitsrats am Montag getragen wurden und zeigten, dass das Meeting vermutlich früher stattfand als behauptet. Aufgedeckt hatten die Geschichte unabhängige Medien in Russland. Sie lässt sich in jedem Fall schöner erzählen als so manch trockener Faktencheck, der Halbwahrheiten auseinanderdröselt – inklusiver einleuchtender Bilder.
Trump vs. technische Tücken
Wo wir gerade bei Fakenews sind: Der Häuptling der Falschmeldungen, Donald Trump, ist nicht nur voll des Lobes für Putins Tricksereien ("genial", "sehr klug"), sondern hat jetzt auch wieder eine Plattform, um solche Einschätzungen in die Welt zu posaunen – zumindest in die Welt seiner Fans.
Der Start von Trumps Twitter-Kopie "Truth Social" war eher holprig, neben technischen Problemen gibt es auch schon Berichte über Zensur auf der Plattform. Das ist höchst ironisch, wenn man in einem Agenturtext bei "Spiegel online" nachliest, was der Chef des dahinterstehenden Medienkonzerns zum Start gesagt hatte: "Es ist wirklich sehr bewegend für mich, Menschen zu sehen, die auf der Plattform sind und deren Stimme ‚gecancelt‘ wurde." Die App sei das "Gegenteil von irgendwelchen Silicon-Valley-Tech-Oligarchen-Freaks, die den Leuten sagen, was sie denken sollen und entscheiden, wer auf der Plattform sein darf und wer nicht".
Wer aktuell auf die URL geht, bekommt eine Seite angezeigt mit dem Versprechen, Truth Social arbeite daran, das Netzwerk "auch in deinem Land" zugänglich zu machen. Wenige Aussichten auf Erfolg räumte der Plattform der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der Kultursendung "Scala" bei WDR5 (Audio) ein:
"Wir wissen aus den entsprechenden Studien, dass die Gründung von immer weiteren Nischenmedien eigentlich nicht funktioniert."
Auch ideologisch gefestigte Menschen wollen ihm zufolge nicht allein in ihrer Echokammer hocken in ständiger Isolation, sondern brauchen und wollen Reibung.
"Wir sehen und wir wissen, und auch das lässt sich durch Studien belegen: Deplatforming, also dieses Herauskicken aus den sozialen Netzwerken, funktioniert und hat auch bei anderen funktioniert. […] Auf einmal schwindet die publizistische Macht und auf einmal hat man sie nicht mehr, weil man eben herausgenommen wurde aus der gesamten Medienökologie, mit der man vorher noch so zielgerichtet gearbeitet hat."
Deplatforming scheint also zumindest ein Instrument zu sein, mit dem sich wirksam gegen Falschnachrichten vorgehen lässt.
Funke-Verlegerin vs. BDZV-Präsident
Zum Schluss noch ein Blick nach Deutschland: Die Causa Mathias Döpfner ist beim Verlegerverband BDZV wohl nicht so schnell vom Tisch wie gedacht. Als der Verband Anfang vergangener Woche zu seinem Delegiertentag zusammengekommen war, hatte es vorher viele Spekulationen rund um den Springer-Chef und BDZV-Präsidenten Döpfner gegeben (Hintergründe in diesem Altpapier). Die Personalie landete dann allerdings trotz all dem Vorab-Geraune nicht auf der Tagesordnung und wurde von den Delegierten wohl nicht weiter diskutiert.
Dafür ist der "Süddeutschen Zeitung" nun ein exklusiver Coup gelungen: Sie berichtet als erstes von der öffentlichen Drohung der Funke-Mediengruppe, Döpfner müsse sein Amt aufgeben, sonst denke man über einen Austritt aus dem Verband nach. Überraschend ist die Kritik nicht, Funke hatte Döpfner schon früher kritisiert und wohl auch schon verbandsintern einen möglichen Austritt ins Spiel gebracht. Im SZ-Artikel von Anna Ernst heißt es:
"Für den Konzern von Verlegerin Julia Becker steht fest: 'Wir halten die hier geforderte Trennung von Präsidentenamt und Person für nicht haltbar. Deshalb erwarten wir eine personelle Neuaufstellung an der Spitze des BDZV.' Man sehe 'die Werte, die wohl jedes dem Journalismus verpflichtete Verlagshaus auszeichnen', nicht mehr ausreichend repräsentiert. 'Zudem haben wir Sorge, dass die Glaubwürdigkeit der gesamten Branche gefährdet ist.' Funke hatte bereits bei der Verbandssitzung mit dem Austritt gedroht. Damit 'wollen wir ein deutliches Zeichen setzen, dass sich etwas ändern muss', heißt es in dem Statement."
Anna Ernst konstatiert im Verband eine "gewisse Ratlosigkeit", nachdem schon einer von Döpfners Stellvertretern, der Madsack-Geschäftsführer Thomas Düffert, zurückgetreten war. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob sich andere Verlage hinter Funke stellen – oder ob Döpfners exzellentes Netzwerk den Verbandsmitgliedern doch zu wertvoll erscheint, um ihn zu schassen.
Altpapierkorb (Ballermann-Serie, Pech- und Martenstein, "New York Times", KEF)
+++ Um die neue RTL+-Ballermann-Serie "Der König von Palma" kommt heute kaum eine Medienseite herum. Online zugängliche Rezensionen gibt es zum Beispiel bei der taz und im "Tagesspiegel". +++
+++ Die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein fordert von der ARD eine "öffentliche Entschuldigung und Richtigstellung", berichtet turi2. Die Sportlerin boykottiert den Sender seit geraumer Zeit und konkretisiert nun auch den Grund dafür. +++
+++ Im Fall Harald Martenstein, der seine Kolumne für den "Tagesspiegel" nach Differenzen aufgegeben hat (siehe Altpapier), startet Christian Meier in der "Welt" (€) einen "Klärungsversuch" und kommt zu dem Schluss: "Tatsächlich kennt dieser Konflikt nur Verlierer. Der 'Tagesspiegel' steht als eine Art Zensor da, Martenstein ist ebenfalls beschädigt." Erwähnt wird im Artikel allerdings auch, dass die Chefredaktion bei Inhalten grundsätzlich das letzte Wort hat. Ähnlich äußert sich auch ein zitierter Experte. Das passt dann eher nicht zu dem Begriff "Zensur". +++
+++ Die Fans des Buchstabenrätsels Wordle wissen es: Die Seite, auf der täglich genau ein Wort erraten werden muss, gehört inzwischen zur "New York Times" – das Medienunternehmen verdient sein Geld längst nicht mehr nur mit klassischem Journalismus. Einen präzisen Überblick über die Strategie der NYT hat Nils Jacobsen für Meedia (€) geschrieben. +++
+++ Dass die Länder gerade an einem neuen Programmauftrag für die Öffentlich-Rechtlichen basteln, ist nur der erste Schritt. In einem zweiten soll es um die Finanzierung der Sender gehen – und somit auch um die Einschätzungen der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF), die die von den Intendantinnen und Intendanten geforderten Summen sachkundig überprüft. Mit dem neuen KEF-Vorsitzenden Martin Detzel, BWL-Professor in Baden-Württemberg, hat Stefan Fries für @mediasres gesprochen (Audio). +++
Neues Altpapier gibt’s wieder am Freitag.
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