Das Altpapier am 22. Februar 2022 Echtzeit, aber in Ruhe
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22. Februar 2022, 09:19 Uhr
Putin spricht, und ARD und ZDF zeigen Tierfilm und Krimi? Die Diskussion über den jüngst angekündigten öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal erhält damit wieder einmal neues Futter. Außerdem: Weitere bekannte Journalisten wechseln die Seiten. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Putins Rede – besser live oder besser zeitversetzt?
Die Ankündigung der ARD-Vorsitzenden Patricia Schlesinger, den Abspielkanal Tagesschau24 zum echten Nachrichtensender umzubauen, ist wenige Tage alt (zuletzt im Altpapier von gestern). Am Montagabend gab es prompt Futter für die Diskussion, ob und wofür man einen solchen Kanal braucht. Als Russlands Präsident Putin eine Rede von historischer Bedeutung hielt, zeigten das Erste der ARD und das ZDF nämlich eines nicht: diese Rede. Jedenfalls nicht live in ihren Schaufensterkanälen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe womöglich "die wichtigste PK des Jahres" verschlafen, kritisierte Hendrik Wieduwilt bei Twitter. Andererseits, Gegenposition von Henrik Merker: "Bin generell froh wenn geschichtsrevisionistische Autokraten-Reden nicht unkommentiert im deutschen Fernsehen laufen".
Man könnte viele Tweets zitieren, aber diese beiden sollen genügen, denn sie enthalten zwei der Kernargumente. Berechtigt ist meines Erachtens sowohl der Hinweis, dass ein Tierfilm, wie er in der ARD um 20.15 Uhr lief, nicht das ideale öffentlich-rechtliche Hauptprogramm ist, während zum Beispiel der private Sender n-tv gerade ein Nachrichtenereignis dokumentiert. Berechtigt ist aber auch der Hinweis, dass Sorgfalt vor Echtzeit gehen muss. Der Gedanke, eine derart brisante Putin-Rede würde mal eben live ins Deutsche übersetzt, als wär’s ein Gespräch mit Hugh Grant auf der "Wetten, dass..?"-Couch, muss einem jedenfalls nicht gefallen. Und die ausgeruhte Live-Einordnung hat halt nun mal noch niemand erfunden.
Es ist selbstverständlich nicht so, dass die Öffentlich-Rechtlichen die Tragweite des Geschehens nicht erkannt hätten. Das ZDF meldete sich online mit einer 21-minütigen Sendung, als Putins Rede gerade zu Ende gegangen war. Tagesschau24 zeigte wohl schon früh einen Splitscreen. Die "hart aber fair"-Redaktion änderte kurzfristig das Thema. Das "heute journal" im ZDF ordnete um 21.45 Uhr die Weltlage ein. Und und und.
Aber Befürwortern eines Newskanals geht es darum, dass man sich a) im Moment eines nachrichtenrelevanten Geschehens und b) an einem verlässlichen Platz, den man nicht erst suchen muss, informieren kann. Man kann darüber streiten, ob Liveblogfernsehen ein Fortschritt ist. Weil es für die tagesaktuelle Diskussion aber nun mal relevant ist, sei an dieser Stelle nachgetragen, was Patricia Schlesinger, die RBB-Intendantin und ARD-Vorsitzende, im am Freitag hier schon zitierten "Handelsblatt"-Interview gesagt hat:
"Bei Breaking-News-Lagen, ob es der Sturm aufs Kapitol ist oder in Bayern ein Tal überschwemmt wird, werden wir in Zukunft sehr viel schneller auf Tagesschau24 live berichten. Und wenn dann die journalistische Schwelle überschritten ist, ab der wir das Hauptprogramm unterbrechen, sind wir auch dort sehr viel schneller sendefähig, denn wir können im Ersten auf das Angebot von Tagesschau24 schalten. Wichtig ist: Für die Zuschauerinnen und Zuschauer gibt es eine Anlaufstelle, eine Adresse, unter der das aktuelle Nachrichtenangebot gebündelt wird, und das wird Tagesschau24 sein."
ARD-Newskanal "politisch genau prüfen"
Christian Meier zitiert in der "Welt" ebenfalls dieses Schlesinger-Interview, allerdings mit einer anderen Passage: "Es wird höchste Zeit, dass das wirtschaftlich stärkste Land Europas den Nachrichtenkanal bekommt, den es verdient." Meier, zu dessen Haus bekanntlich ein Nachrichtensender gehört, schreibt dazu:
"Abgesehen davon, dass es sich bei der Formulierung Schlesingers um eine vermutlich kalkulierte, aber unnötige Provokation handelte – das wirtschaftlich stärkste Land Europas hat bereits ökonomisch funktionierende Nachrichtenkanäle, ein beitragsfinanzierter Nachrichtenkanal müsste sich dagegen erst gar nicht am Markt refinanzieren, denn er würde von den Bürgern bezahlt – ist ihre Aussage ganz klar nicht darauf angelegt gewesen, für ein Nebeneinander zu werben, sondern darauf, einen Anspruch zu formulieren, nämlich den auf die Rolle des Qualitätsmarktführers."
Christian Bartels hat gestern hier im Altpapier darauf hingewiesen, dass "der kämpferische Springer-Verlag" bis Montagmorgen nur sparsam auf die Nachrichtenkanal-Ankündigung der ARD reagiert hat. Nun gibt es also eine ausführlichere Reaktion. Christian Meier zitiert Claus Grewenig von RTL Deutschland, der einem Fachbereich im Verband privater Rundfunkveranstalter vorsteht, mit der Forderung, die Ankündigungen der ARD "politisch genau zu prüfen". Und kommt selbst zum Schluss, ein öffentlich-rechtlicher Newssender komme "einem Angriff auf das Nebeneinander von beitragsfinanzierten und privaten Sendern gleich, das sich duales System nennt".
Wieder wechseln Journalisten die Seite
"Steinmeier baut Schloss Bellevue um", schlagzeilte gestern der "Spiegel" online, und während man sich noch fragte, warum er keine Handwerker beauftragt, war die Zeile auch schon geändert. Ein "großer Umbruch" steht der neuen Formulierung zufolge im Bundespräsidialamt an. Was uns an dieser Stelle nicht interessieren müsste, beträfe die "große Personalrochade" nicht auch "zwei Topjournalisten".
Nur zwei Monate nach Antritt der neuen Regierung wechseln also erneut (Altpapier) Journalistinnen und Journalisten die Seite. Diesmal sind es Cerstin Gammelin, die stellvertretende Leiterin der Parlamentsredaktion der "Süddeutschen Zeitung", und Marc Brost, der Hauptstadtbüroleiter der "Zeit". Sie werde Steinmeiers Sprecherin, er Redenschreiber, heißt es. (Die "SZ" meldet Gammelins Wechsel klein auf Seite 6 der Dienstagsausgabe mit der dpa als Quelle.)
Hinter den Wechseln stehen individuelle Entscheidungen, die es zu respektieren gilt. Man kann aber etwas zu Wechseln vom Journalismus in die Politik (und zurück) generell sagen. Durch sie kann der Eindruck entstehen, dass Medien und Politik sich in einer geteilten Wirklichkeit befinden, die aber nicht zwangsläufig die von allen Menschen ist. Natürlich sprechen Politikerinnen häufiger mit Journalistinnen, als mit Pflegern oder Friseuren; und die Agenda der Politik ist für die Themenwahl von Redaktionen relevant, weil Journalisten unter anderem dafür da sind, über Politik zu berichten. Aber gerade deshalb ist eine Trennung der Sphären so wichtig.
Der Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat im Dezember bei Übermedien dafür plädiert, die Welten des Journalismus und der Politik "stets durch eine rote Linie getrennt" zu halten, auch wenn der Übertritt "eine lange Tradition" habe. "Alle, die über einen Seitenwechsel nachdenken", sollten sich "darüber klar sein, wie ihr Schritt über die rote Linie von außen wahrgenommen wird. Und auch, ob ein Schritt zurück eines Tages möglich sein wird – oder nicht."
Was uns zu Journalismus-Personalie Nummer drei führt, die vom "großen Umbruch" im Bundespräsidialamt betroffen ist. Dabei geht es um Frank-Walter Steinmeiers bisherige Sprecherin Anna Engelke. Ihre Zeit in Bellevue endet wohl demnächst. Das schrieb The Pioneer schon vor einigen Tagen, und der "Spiegel" berichtet nun, dass sie zum NDR zurückkehre. Wohin beim NDR, schreibt der "Spiegel" nicht, aber vor ihrem Wechsel hatte sie das ARD-Hauptstadtstudio des NDR-Hörfunks in Berlin geleitet. Damals, 2017, hat das NDR-Medienmagazin "Zapp" nachgefragt, wie es nach Engelkes Zeit im Amt für sie weitergehen könnte. "Wenn die Zeit als Sprecherin vorbei ist, kann ich mir wieder eine Arbeit als Journalistin vorstellen", wurde sie damals zitiert. Wenn man es sich vier Jahre später nur mal nicht zu leicht macht.
Braucht man noch Korrespondenten?
Auch Ben Smith hat seinen Job gekündigt, der Medienkolumnist der "New York Times". Hier im Altpapier fiel Smiths Name zuletzt, als es um die Recherchen der "Akte Springer" ging, und zuvor, als er über einen Konflikt in seinem eigenen Haus einigermaßen scharf berichtete (was, nebenbei, darauf hinweist, dass man die Distanz von Journalisten zu ihrem Gegenstand nicht zwangsläufig an der Visitenkarte ablesen kann).
Smith verließ die "Times" jedoch nicht, um Behördensprecher zu werden. "Ich fragte mich einfach: Wie lange soll ich noch darüber schreiben, wie andere Leute schreiben?", sagt er, mit schönen Grüßen an Medienjournalisten in aller Welt, im Interview mit der Dienstagsausgabe der "Süddeutschen". Er will ein eigenes Medium aufbauen. Lässt man den ganzen marketingnahen Kram weg, den er im Interview erzählt, bleiben einige treffende bis diskutable Beobachtungen der dynamischen Medienwelt. Das hier ist meines Erachtens die interessanteste:
"Soziale Medien haben beispielsweise das Modell des Auslandskorrespondenten weitgehend überflüssig gemacht. (…) Wenn Sie heute einen Bericht aus Japan oder Nigeria wollen, dann ist es doch viel besser, wenn die Leute aus Nigeria oder Japan selber berichten, und Editoren in den verschiedenen Ländern helfen, das für das heimische Publikum zu übersetzen. Wir wollen einen Ansatz, bei dem man ein Netzwerk von Experten hat an verschiedenen Orten, die sich miteinander austauschen."
Das klingt nachvollziehbar, und dass er ein "globales Medium" aufbauen wolle, klingt eh gut, gerade vor dem Hintergrund, dass es nicht mal wirklich ein europäisches gibt.
Bei der Konzipierung des neuen Mediums könnte aber schon auch eine Rolle spielen, dass freie Mitarbeiter in aller Welt ökonomischer sind als ein Netz von Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten. Zumal sich durch den Wechsel von Korrespondenten zu lokalen Experten allein an einem nichts ändern würde: Ein Thema ist gerade für digitale Medien dann ein Thema, wenn darauf auch zugegriffen wird. Die Frage des digitalen Journalismus ist, wie man seinem Publikum eine Geschichte aus Nigeria oder Japan verkauft, wenn es mit dem flotten Lebenswelt-Interview mit einer Paartherapeutin um messbare Aufmerksamkeit konkurrieren muss. Möge es Ben Smith und seinen Leuten einfallen.
Altpapierkorb (Merkel-Porträt, Michael Winterhoff, Trumps Network, Olympia-Nachbereitung)
+++ Eine Merkel-Hagiographie (FAZ) von Torsten Körner besprechen der "Tagesspiegel".und die "FAZ", die etwa schreibt: "Körner wird Angela Merkel näherkommen als andere – nicht nur der Kanzlerin, sondern auch der Privatperson. Dafür fehlt dem essayistisch angelegten Film am Ende jede Distanz: Angela Merkel, lernen wir, hat immer moralisch gehandelt. Sie hat sich durchgekämpft und – fast – immer alles richtig gemacht." Auch die "SZ" findet den Film mitunter "allzu respektvoll".
+++ "Elternschaft ist kein Medienspektakel", schreibt Gundi Herget bei journalist.de zur Berichterstattung über Eltern und Kinder, die bisweilen von starken Thesen geprägt ist. Sie bezieht sich vor allem auf den Fall des medienbekannten Kinderpsychiaters Michael Winterhoff, über dessen Diagnosen und Behandlungsmethoden im August eine ARD-Dokumentation lief. Herget: "Ich finde, auch wir Medienschaffenden sollten unsere Rolle aufarbeiten. Denn fundierte Kritik an Michael Winterhoffs Thesen gab es in Fachkreisen vom ersten Buch an – allerdings nur in Fachkreisen. Für die Medien war er der perfekte, nun ja, Experte: plakative Thesen, Katastrophenrhetorik, simple Botschaften, selbstbewusstes Auftreten, passable Optik und ein Bestseller nach dem anderen (wofür dann auch wieder die mediale Präsenz gesorgt hat, eine Wechselwirkung)."
+++ Donald Trumps sog. Social Network ist dem Vernehmen nach gestartet, allerdings mit diversen Problemen (u.a. "taz", spiegel.de).
+++ "Der Club der Auslandskorrespondenten in China (FCCC) hat Behinderungen bei der Berichterstattung über die Olympischen Winterspiele in Peking kritisiert." (dpa/newsroom.de )
Neues Altpapier erscheint am Mittwoch.
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