Teasergrafik Altpapier vom 17. Februar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 17. Februar 2022 Die Lyrischen Spiele

17. Februar 2022, 09:50 Uhr

Sonette, live getextet: Die Olympiaberichterstattung von ARD und ZDF könnte nach den Spielen als Gedichtband erscheinen. Mit dem Metaversum droht die alte Dystopie-Utopie-Internetdebatte zurückzukommen. Und: Eine Datenanalyse der Impfdebatte auf Twitter. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die Sportberichterstattung ist ein Gedicht

ARD-Programmdirektorin Christine Strobl war am Mittwochabend bei "Jörg Thadeusz" im Hörfunksender WDR2 zu Gast und vertrat dort die These, das deutsche Fernsehen präge das Deutschlandbild. Die Öffentlich-Rechtlichen seien stärker als "die Mitbewerber" gefordert, "die Breite der Gesellschaft" abzubilden.

Wenn das so ist, hätte ich einen Formatwunsch: Ich wünsche mir, dass nach den Olympischen Spielen eine Bildungsreihe aufgelegt wird, in der Schulklassen die Live-Kommentare der Sportreporter und -reporterinnen analysieren; Reimschema, Stilmittel, Gattungsmerkmale, das ganze Pipapo. Was wissenswert für unsere Kinder ist, muss auch im Fernsehen seinen Platz haben. Arbeitstitel der Show: "Was will uns der Autor damit sagen?"

Seit gestern sind von Beobachtenden der Fernsehsportübertragungen mindestens zwei bemerkenswerte Live-Kommentare aufgegriffen worden, die Ihnen nicht vorenthalten bleiben sollen. Zum einen wurde auf den Seiten des Redaktionsnetzwerks Deutschland unter der Überschrift "ARD-Kommentator feiert Olympia-Gold der Skilangläuferinnen: 'Hast denn du die Pfanne heiß?'" ausführlich der Live-Kommentar von Jens-Jörg Rieck zitiert. Bringt man Riecks Zitate noch ein wenig in Form, kann man sagen, dass er quasi live ein Sonett getextet hat. Nennen wir es "was für ein dramatisches finale":

heiz da jetzt rein
bring das ding um die kurve verdammt
ich fass es ja nicht ich fass es nicht
komm schieb das ding weiter

es sind noch fünfzig meter
schweden oder deutschland
deutschland oder schweden
ja hast denn du die pfanne heiß?

es ist gold es ist gold
ich fass es nicht ich fass es nicht
mädchen mädchen

was für ne vorstellung
deutschland hat gold
das hätte ich nicht mehr gedacht

Die Verse des zweiten Beispiels zitiert Holger Gertz in seiner feinen Olympia-Kolumne auf der Medienseite der "Süddeutschen Zeitung". Allerdings klärt er die Frage der Urheberschaft nicht vollständig. Er schreibt die Verse zwei Autoren zu, die allerdings – so deutet Gertz an – mit einer Zunge sprechen: Eik Galley vom MDR (bei dem auch diese Kolumne erscheint) und Michael Kreutz vom ZDF. Verhandelt wird in ihrer Apotheose "Franz" der Sieg des Bobfahrers Francesco Friedrich:

Die Ausfahrt aus der 6
die Überfahrt in die 9
super, super!
119,8 Geschwindigkeit stimmt!

Francesco Friedrich
einfach überragend galaktisch
dieser Mann aus Sachsen aus Pirna

Jetzt kommt die 4
für Hansi Lochner, der
so gern, so gern
den großen Franz schlagen würde

Was macht jetzt Francesco Friedrich?
Der Meister ist herausgefordert
der Meister muss jetzt kontern

Unsterblichkeitsserie
zwei Bayern oben
und ein Sachse

Was macht jetzt Francesco Friedrich?
Francesco Friedrich, er steht
so sehr zu seiner Heimatstadt
seine Eltern Peggy und Maik wären gern dabei

Sie alle werden jetzt zu Hause feiern
den großen Papa
den großen Franz

Ende. Und nur nebenbei: Nachdem wir vor einigen Tagen die Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, dass die Fernsehberichterstattung von diesen Olympischen Spielen in China auffallend kritisch sei, können wir hiermit nun vermelden, dass die allgemeine Medaillenbesoffenheit darunter nicht weiter gelitten hat.

Dystopie, Utopie – was soll es werden, das Metaversum?

Das Metaversum stülpt sich langsam, aber sicher über uns. Zumindest wird es seit der Umbenennung Facebooks in Meta (Altpapier) in Zeitungen und Onlinediensten in die breitere Wahrnehmung hineinverhandelt. Mal als Dystopie. Mal als Utopie. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung widmet dem Thema unter dem anspielungsreichen Titel "Schönes neues Metaverse" heute einen größeren essayistischen Aufschlag und steht dabei vor dem Problem, das momentan viele Redaktionen haben, die darüber arbeiten: Die Wissenskluft ist relativ groß, und man muss, wenn man ein breites Publikum adressiert, immer wieder bei Null und einem relativ ausführlichen Kontextparagraphen anfangen. Hier die Begriffsklärung von Stefanie Diemand aus der "FAZ":

"Das Metaversum bedeutet für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge, aber in der Regel ist es immer das nächste große Ding nach dem Internet. [Mark] Zuckerberg beschreibt es als 'ein verkörpertes Internet, in dem man Inhalte nicht nur anschaut, sondern in ihnen steckt und sie via Virtual Reality direkt erlebt'. Ermöglichen sollen das Techniken wie Blockchain, eine Art digitales Logbuch, Non-Fungible Tokens (NFT), ein digitales Echtheitszertifikat für ein digitales Gut, und Virtual-Reality-Brillen. Wie das Metaversum aber tatsächlich gestaltet sein wird, lässt sich noch nicht sagen, sagt auch der amerikanische Medienprofessor Edward Castronova. Wir wüssten heute nur eines sicher: Es kommen große Veränderungen auf uns zu."

Indeed. Und Diemand ist nicht sehr hoffnungsfroh angesichts der Aussicht, dass "die großen Tech-Konzerne" über "diese neuen Welten herrschen" könnten. Ihr Essay verhandelt der Unterzeile nach "eine Dystopie".

Wie angemessen es ist, dem Metaverse – oder wie immer man es nennen mag– vorsorglich sorgenvoll zu begegnen, das ist allerdings eine andere Frage. Mancher wird sich vielleicht an die Debatten der Nullerjahre erinnern, in denen alles, was nach Internet roch, entweder als Quatsch mit Stecker abgewürgt oder grundlegend abgefeiert wurde. Allzuviel im Graubereich dazwischen gab es nicht vor zehn bis fünfzehn Jahren. Interessant ist diesbezüglich "Zeit"-Redakteur Ijoma Mangolds Rückblick auf die "Rigorosität, mit der jede Problematisierung des Internets zurückgewiesen" worden sei. Selbst in der Redaktion der "Zeit" habe ein Artikel, in dem die damals vieldiskutierte These von der "Demokratisierung des Diskurses" durch zum Beispiel Facebook kritisch betrachtet worden sei, einen "Sturm der Entrüstung" entfacht, sagt er in einem Podcast (etwa bei Minute 35). Mit derselben Energie werde heute allerdings "internetkritisch" gesprochen.

Besteht die Gefahr, dass nun, ähnlich vorsorglich, trügerische Hoffnungen und übertriebene Ängste auf die nächste Entwicklung projiziert werden? Thomas Assheuer weist in einem Text im "Zeit"-Feuilleton, in dem in der Unterzeile sowohl das Wort "fürchten" als auch das Wort "Utopie" vorkommt, darauf hin, dass es zumindest sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, wie dieses Metaversum ausgestaltet sein könnte.

Eine ist bei netzpolitik.org ausformuliert, wo von einer "Alternative zum körperlosen kapitalistischen Metaversum" (Assheuer) berichtet wird. Rahel Lang schreibt dort über die Silicon-Valley-Kritiker vom Dynamicland: "Das digitale Medium, das sie gemeinsam entwickeln, soll niemand besitzen und kann somit auch nicht vermarktet werden. Dadurch bekommt das ganze Projekt einen antikapitalistischen Anstrich." Es handle sich um einen "egalitären Gegenentwurf zu den Produkten und Strukturen des Silicon Valley".

Dass Thomas Assheuer zu wissen vermutet, wie das Ganze ausgeht – nämlich damit, dass den Hippies ein Angebot gemacht werde, das sie reich, aber irrelevant macht –, ist eine hübsche Pointe. Allerdings die aus dem alten Internet, dem der Gegenwart. Das neue wird doch ganz anders!

Datenanalyse: eine Minderheit, die größer wirkte

Klassischeren Medienjournalismus gibt es heute auch. Den Überblick finden Sie, wie immer, im Altpapierkorb. An dieser Stelle sei allerdings noch auf die ungewöhnliche Medienseite der "FAZ" hingewiesen, auf der ganzseitig eine Datenanalyse abgedruckt ist, die mittlerweile auch online verfügbar ist: Wie die Debatte über die Impfung in einem überschaubaren Zeitraum bei Twitter ablief, darum geht es – und darum, wie eine zahlenmäßig kleinere Gruppe von Impfgegnern größer wirken konnte als die, die Covid-Impfungen befürworten.

Die Ergebnisse überraschen zwar nicht: "Das Phänomen der sich voneinander abschottenden Gemeinschaften beobachteten Sozialwissenschaftler auf Twitter in der Vergangenheit besonders bei kontroversen Themen, wie etwa bei der Präsidentschaftswahl von Donald Trump und vor dem Brexit-Entscheid der Briten."

Ernüchternd sind sie aber trotzdem: "So zeigt sich, auch wenn Twitter nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft repräsentiert, wie sich randständige Sichtweisen über soziale Medien verbreiten lassen."


Altpapierkorb (BDZV-Delegiertentreffen, Mai Thi Nguyen-Kim, Luke Mockridge, CNN, Raoul Peck, bessere Weltkarte, Martenstein-Kolumne)

+++ Der Präsident des Bundesverbands der Digitalpublisher und Zeitungsverleger, Springer-Chef Mathias Döpfner, steht auch intern massiv in der Kritik (zu den Vorgängen bei Springer ist zuletzt dieses Altpapier erschienen). Horizont erklärt und interpretiert, warum beim "mit Spannung erwarteten Delegiertentreffen" des Verbands am Montag "die von vielen für möglich gehaltene, erwartete, ersehnte oder herbeigeschriebene Palastrevolution offensichtlich ausgeblieben" sei.

+++ "Der Freitag" interviewt die ZDF-Moderatorin und vielfach prämierte YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim, und es geht unter anderem um die in den vergangenen Jahren oft verhandelte Frage, wie Aufmerksamkeitsökonomie und Wissenschaft miteinander reagieren: "Vor Corona dachte ich: Was der Wissenschaft fehlt, ist Aufmerksamkeit. Hätten wir nur mehr Reichweite und mehr Aufmerksamkeit, dann wäre die Gesellschaft viel aufgeklärter. Heute würde ich sagen, teilweise ist die übergroße Aufmerksamkeit fast kontraproduktiv."

+++ Die "Zapp"-Redaktion hat sich, internettauglich als dreiteilige Reihe, des Falls Mockridge angenommen: "Schuldig oder nicht? Diese Frage kann und will auch ZAPP nicht klären. Wir wollen stattdessen wissen: Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke bei der Debatte um die Vorwürfe? Inwiefern geben sie Opfern sexualisierter Gewalt eine Stimme? Wo verläuft die Grenze zur Verleumdung?"

+++ Die Krise von CNN kommentiert der Tagesspiegel.

+++ Jörg Häntzschel interviewt auf der "SZ"-Medienseite Raoul Peck zu seinem langen Filmessay "Rottet die Bestien aus!" über "die Geschichte von 700 Jahren weißen Verbrechen an Nichtweißen" (Arte-Mediathek). Es ist ein interessantes Gespräch, in dem Häntzschel einige gute Aspekte auch zur Machart des Films aufbringt – zum nichtlinearem Erzählen von Geschichte, zur Gefahr, dass drastische Bilder abstumpfend wirken könnten, oder zur Verwendungen von Spielszenen.

+++ Andrea Böhm empfiehlt in der "Zeit", sich an der Weltkarte des Japaners Hajime Narukawa zu orientieren: "Auf keiner anderen sind die Kontinente so genau in ihren realen Dimensionen eingezeichnet. Afrika ist darauf um einiges größer als auf herkömmlichen Karten, eine gigantische Landmasse. Die Europäische Union schrumpft zum Klecks." Böhm blickt auf die Zusammenkunft der Staats-und Regierungschefs der Afrikanischen und der Europäischen Union voraus, und es geht dabei auch um europäische Perspektiven auf den Nachbarkontinent, die immer auch mediale Perspektiven sind (siehe dazu und zur Weltkartenfrage den Altpapier-Jahresrückblick 2021).

+++ Dass die Verfassungsbeschwerde von Jan Böhmermann gegen das weitgehende Verbot seines Erdogan-Schmähgedichts abgelehnt worden ist, haben wir vergangene Woche kurz berichtet. Wer Juristisch spricht, könnte sich womöglich für die Analyse von Christian Peter interessieren, der den Beschluss des Verfassungsgerichts für nicht so "nichtssagend oder 'fast unbegründet'" hält wie andere Kommentatoren.

+++ Eine neue Kolumne von Harald Martenstein kommt gänzlich ohne antisemitischen Bullshit aus (Altpapier vom Mittwoch), aber ohne das Gendern betreffende Kommentare geht’s dann doch nicht. Diesmal denkt die kolumnierende Person darüber nach, ob die Straßennamen in ihrem brandenburgischen Dorf divers genug seien. Der "Herrensteiner Weg" lässt sie zweifeln. Ob es wohl irgendwann langweilig wird?

Neues Altpapier erscheint am Freitag.

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