Teasergrafik Altpapier vom 2. Februar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 2. Februar 2022 Wenn Filmkritiker Russisch Roulette spielen

02. Februar 2022, 09:15 Uhr

Transformativer Journalismus wird vermutlich nicht das nächste größte Ding, obwohl er es eigentlich werden sollte. In Köln diskutieren Dokumentarfilmer über Filme, deren Konzepte sich mit den Vorstellungen von TV-Redakteuren nicht in Einklang bringen lassen. Und in Berlin steht ein potenzielles Superspreader-Event bevor. Ein Altpapier von René Martens

Progessive Interessenvertretung

Zu den Journalismen, die im Altpapier meiner Wahrnehmung nach bisher noch keine Berücksichtigung gefunden habe, gehört der Transformative Journalismus. Wir versuchen, das heute mal nachzuholen, weil sich Lorenz Matzat im "Klimathema"-Blog mit "Thesen zum Transformativen Journalismus" auseinandersetzt - und zwar anhand von zwei Aufsätzen aus dem vergangenen Jahr: "Transformative Journalisms: How the ecological crisis is transforming journalism" von Michael Brüggemann, Jannis Frech und Torsten Schäfer und "Geburtshelfer für öko-soziale Innovationen: Konstruktiver Journalismus als Entwicklungskommunikation für westlich-kapitalistische Gesellschaften in der Krise" von Uwe Krüger.

Anlass der hier angestellten Überlegungen ist die Frage, wie sich Journalismus verändern muss, wenn er dazu beitragen will, der "großen Menschheitsherausforderung" Klimawandel gerecht zu werden. Das Autorentrio Brüggemann/Frech/Schäfer etwa, so Matzat, schlage vor, "transformative Journalismen als eine besondere Art progressiver Interessenvertretung zu entwerfen: Eine soziale Transformation in Richtung Nachhaltigkeit wird durch journalistische Arbeit befördert". Es gehe darum, "eine aktive Rolle im Initiieren und Umsetzen von Wandlungsprozessen" einzunehmen.

Matzat ist aber skeptisch,

"ob die Vorstellungen über einen TJ je weitflächig Einzug in die journalistische Praxis halten werden. Weil die Einsicht, dass eine 'Große Transformation' notwendig ist, um der Klimakrise zu begegnen, weiterhin eine Außenseiterposition ist. Eine Gesellschaft, die sich nicht grundsätzlich wandeln möchte, wird einem TJ wenig abgewinnen können."

Dennoch:

"Ob unter der Bezeichnung Transformativer Journalismus oder einer anderen: Tatsächlich könnte die journalistische Zunft in der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem Umgang der Klimakrise eine bedeutende Rolle einnehmen: Denn der Diskurs über die Herangehensweise an den Wandel muss organisiert sowie Orientierung gesucht und gefunden werden. Vielleicht kann diese Rolle dann nicht mehr Journalismus genannt werden. Weil angesichts der drohenden Klimakatastrophen dessen ihn bestimmendes Bezugssystem aus Neutralität und Ausgewogenheit schlicht nicht mehr funktionieren kann."

Voraussetzung für "transformative" Entwicklungen wäre aber erst einmal, dass im Journalismus eine "vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin" stattfindet, wie Carel Mohn und Sven Egenter in einem im Dezember erschienenen Beitrag über "Dimensionen des Journalismus in der Klimakrise" schreiben, der im Altpapier-Jahresrückblick zum Thema Klima erwähnt war (und aus dem auch Matzat zitiert):

"Am Anfang stünde eine stärkere Auseinandersetzung von Medienschaffenden mit der Frage, wie ihr Beruf wirkt und was er bewirkt und das Ende der von vielen journalistischen Profis kultivierten Arroganz gegenüber einem wissenschaftlichen Verständnis des Journalismus. Diese Arroganz zeigt sich beispielsweise in der geringen Wertschätzung, die Journalismuspraktiker vielfach Fächern wie der Journalistik, der Medien- oder Kommunikationswissenschaft entgegenbringen."

Als es noch Filme "im Dienst der Arbeiter" gab

Die Verdi-Plattform "M - Menschen Machen Medien" berichtet über das von der dfi-Dokumentarfilminiative Ende der vergangenen Woche in Köln veranstaltete Symposium "Producing Spaces" (bei dem ich einen Impuls-Vortrag gehalten habe). Diskutiert wurde über Filme, deren Konzepte sich mit den Vorstellungen der Entscheiderinnen und Entscheider in der heutigen Fernseh- und Förderlandschaft nicht in Einklang bringen lassen.

"Alle vorgestellten Projekte einte (…), dass nicht ein fertiges Produkt – der Film – im Vordergrund steht, sondern die sozialen und politischen Kontexte, in denen das Projekt stattfindet",

schreibt "M"-Berichterstatterin Eva Königshofen.

Beim Nachdenken darüber, was man anders manchen kann und will als bisher, wenn bei den Öffentlich-Rechtlichen ohnehin weniger oder nichts mehr geht, blickten die Teilnehmenden teilweise auch weit zurück in die Dokumentarfilmgeschichte. Zum Beispiel anhand eines Vortrags von Gernot Steinweg, Jahrgang 1944. Königshofen schreibt dazu:

"Selbst ehemaliges Mitglied des Filmkollektivs 'Cinema Action' und später Gründer von 'Arbeit und Film', nimmt er das Publikum mit in eine 30-minütige Oral History des politischen Arbeiter*innenfilms. Entstanden in den frühen 1970er Jahren, produzierte 'Arbeit und Film' Dokumentarfilme für und über die Arbeitskämpfe in Betrieben. Die Gruppe verstand ihre Aufgabe darin, 'ihre Arbeitskraft in den Dienst der Arbeiter' zu stellen, so Steinweg: 'Es ging darum, das Medium Film zu verstehen und zum Zwecke des Arbeitskampfes einzusetzen. Die Kamera war dabei Teil der Bewegung.’ Tatsächlich spielten die Arbeiter*innenfilme eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Informationen, die Mobilisierung und den Aufbau solidarischer Allianzen innerhalb der Arbeiter*innenschaft. 'Arbeit und Film' tourte mit den Filmen zu Demonstrationen und Kundgebungen und trug mitunter dazu bei, dass Werkschließungen verhindert werden konnten."

Was ist eigentlich ein "kollektives Erlebnis"?

"Sagt die Berlinale ab!", fordert die Filmkritikerin Anna Wollner in einem Rant bei RBB24. Einer ihrer Vorwürfe lautet:

"Die Macher:innen haben versäumt, auf ein Hybrid- beziehungsweise Online-Festival umzusteigen."

Wollner weiter:

"Auf dem von Wissenschaftlern prognostizierten Peak der Welle wird der Potsdamer Platz zum Ort eines Präsenz-Filmfestivals. Ein Ort der Begegnung. Bei einem Filmfestival geht es nicht nur um das kollektive Erleben von Filmen auf der großen Leinwand, es geht um den Austausch miteinander. Ein Austausch, der in diesem Jahr nur einer sehr privilegierten Gruppe zustehen wird. Journalist:innen mit Kindern sind defacto ausgeschlossen."

Womit wohl gemeint ist, dass potenzielle Berlinale-Berichterstatterinnen und Berichterstatter ihre Kinder nicht zur Durchseuchung in die Schule oder die Kita schicken - und sie daher mit den Kindern zu Hause bleiben.

Das Fazit der RBB-Autorin:

"Als Journalist:in auf die Berlinale zu gehen, ist wie Russisch Roulette spielen. Die Kolleg:innen, die am letzten Tag noch einen negativen Test vorweisen können, sollten mit einem Ehrenbären ausgezeichnet werden. Ja, das Kino und die Kultur brauchen starke Zeichen. Aber kein Film, vor allem kein Filmfestival der Welt ist es wert, die eigene Gesundheit und die der anderen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sollte die Berlinale zum Superspreader-Event werden, ist ihr Ruf – auch international – wohl endgültig ruiniert."

Wollner argumentiert teilweise in eine ähnliche Richtung wie kurz vorher Bahareh Ebrahimi im ND, die den Berlinale-Co-Leiter Carlo Chatrian mit den Worten zitiert, dass das "kollektive Erlebnis im Mittelpunkt eines Filmfestivals" stehe - und fragt, was denn Menschen davon hätten, die "etwa aus finanziellen Gründen nicht reisen können". Ebrahimi stellt in dem Zusammenhang das diesjährige Online-Only-Konzept des Sundance Festivals heraus:

"In dieser Welt, in der sich die sogenannten renommierten Festivals ihre angebliche Wichtigkeit und Besonderheit selbst verleihen, indem sie den Zugang für viele Menschen so einschränken, dass am Ende fast nur die Elitären und die Privilegierten mitmachen können (und man dort jährlich dieselben Gesichter aus denselben Medien sieht), da macht Sundance genau das Gegenteil. Es ist interessant zu vergleichen: Für die einen ist ein kollektives Erlebnis nur dann möglich, wenn ein paar Menschen nebeneinander im Kinosaal husten. Die anderen hingegen verstehen unter 'kollektiv’ etwas ganz anderes: Je mehr Menschen Zugang zum Erlebnis haben, desto kollektiver ist das Erlebnis. Während manche sich also immer noch danach sehnen, das Format von gestern zurückzuhaben, denken die anderen an die Zukunft nach der Pandemie, an die neuen Formen, die beides ermöglichen: physischen und digitalen Austausch, damit das Festival, das Erlebnis, vielstimmiger, vielfältiger, noch inklusiver, ja kollektiver wird."

Schutz für Journalisten? Können wir uns nicht leisten!

Die Bedrohung, der Journalistinnen und Journalisten auf rechten Demos ausgesetzt sind, war in den vergangenen Monaten oft Thema im Altpapier - zuletzt sowohl am Montag als auch am Dienstag dieser Woche -, und in der Regel richtet sich die Kritik betreffend mangelndem Schutz dabei an die Polizei. Ellen Nebel hebt im aktuellen "epd medien"-Tagebuch dagegen die "Verantwortung der journalistischen Auftraggeber" hervor:

"Bereits im April 2021 stellten mehrere Organisationen, darunter (…) der DJV, die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), die Neuen deutschen Medienmacher und Reporter ohne Grenzen (RSF) den 'Kodex für Medienmacher' vor. Arbeitgeber sollen sich damit verpflichten, von Angriffen betroffene Medienschaffende frühzeitig Unterstützung zu bieten. Doch neun Monate später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Dem Kodex angeschlossen hat sich nach den Erstunterzeichnern Deutsche Presse-Agentur (dpa), 'Frankfurter Rundschau', 'tageszeitung', 'Der Spiegel', 'Die Zeit' und 'Zeit Online' lediglich ein weiteres Haus: die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH)."

Die Argumentation mancher Nicht-Unterzeichnenden findet Nebel befremdlich:

"Einige Häuser begründen ihre ablehnende Haltung damit, dass sie sich die darin vereinbarten Schutzmaßnahmen wie externe psychologische Hilfe oder die Kostenübernahme für Personenschutz nicht leisten könnten. Sie sollten überdenken, ob sie sich Journalismus überhaupt noch leisten können."


Altpapierkorb (Morde an Journalisten in Mexiko, zur Lage des Twitter-Klons Gettr, Einstimmung auf Olympia-Berichterstattung)

+++ "Ein schlimmer Jahresanfang für Mexikos Journalist*innen: drei ermordete Medienschaffende in zwei Wochen. Damit erhöht sich die Zahl der seit dem Amtsantritt López Obradors 2018 getöteten Pressevertreter*innen auf 28, seit dem Jahr 2000 sind es 148" - das schreibt die taz. Wie "schlimm" die Lage in Mexiko ist, zeigt sich auch daran, dass kurz nach Erscheinen des taz-Textes noch ein vierter ermordeter Journalist seit Jahresbeginn hinzugekommen ist (wie dem Guardian zu entnehmen ist).

+++ Dass der rechte Twitter-Klon Gettr "wackelt", berichtet Isabel Knippel für den "Volksverpetzer": "Dass die größte Finanzspritze und das technische Fachwissen für das Projekt von einem chinesischen Ex-Milliardär kommt, dürfte den Menschen, die die Schuld für die Pandemie China und dem Kommunismus geben, nicht gefallen: Guo Wengui, in China wegen 19 verschiedenen Delikten, unter anderem Vergewaltigung und Betrug, angeklagt (…), verkauft sich selbst als Whistleblower an der Seite des rechtsextremen Meinungsmachers Steve Bannon (…) Auch wenn viele Gesichter aus der rechtsextremen Szene Gettr unterstützen (…): Nutzer:innen scheinen der Plattform, die sowohl bei Technik als auch bei Transparenz durchfällt, längst überdrüssig. Bestes Beispiel: Selbst Trump, der die Seite einst in Auftrag gab, ist dort noch nicht einmal Mitglied."

+++ Und warum die Berichterstattung von den Olympischen Winterspielen in China - im TV zu verfolgen bei ARD, ZDF, Eurosport und Joyn Plus - "ein medialer Eiertanz, mindestens ein Spagat" wird, erläutert der "Tagesspiegel".

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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