Das Altpapier am 31. Januar 2022 Der nächste Mexit
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31. Januar 2022, 10:38 Uhr
Wenn Journalistinnen und Journalisten sich vom bürgerlichen Habitus von Demonstrierenden irritieren lassen. Wenn Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler, die hauptberuflich Sozialarbeiter oder Softwareentwicklerinnen sind, Journalistinnen und Journalisten schützen müssen. Wenn Josef Joffe alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Rohe Bürgerlichkeit
- "30 Sekunden zur Flucht"
- Pfusch in Fretterode
- Der Flügel-Verteidiger tritt ab
- Josef Joffes 15 Jahre alte neue These
- Altpapierkorb (die "Bild"-Zeitung und die Wissenschaftler, "neun Thesen zur Zukunft der Debatte in sozialen Medien", Neues von den öffentlich-rechtlichen Auslandskorrespondenten)
Rohe Bürgerlichkeit
Die deutschsprachigen Monatszeitschriften kommen tendenziell etwas zu kurz im Altpapier - obwohl man etwa die "Blätter für deutsche und internationale Politik", den "Merkur" und das "Tagebuch" aus Österreich schon mal grundsätzlich dafür loben kann, dass sie eine Option bieten, die bei den meisten bekannteren tagesaktuelle Medien fehlt: Man kann einzelne Artikel online kaufen, ohne dafür ein Abo abschließen zu müssen: Bei den "Blättern" kostet ein Text einen Euro, beim "Merkur" zwei, beim "Tagebuch" variiert der Preis. Große Medienunternehmen verzichten auf diese Art der Inhalteverbreitung. Der Aufwand rechne sich für sie nicht, sagen sie.
Frei online steht aus der Februar-Ausgabe der "Blätter" ein Text, in dem David Begrich sich mit einer der fatalen Schwächen beschäftigt, die seit 2020 die Berichterstattung über Demonstrationen von Verschwörungsgläubigen, Impfgegnern und -gegnerinnen und Umsturzfans prägen: Aus der Kleidung, dem Habitus, der Frisur und vor allem dem Alter von Demonstrationsteilnehmenden ziehen zu viele Journalistinnen und Journalisten naive Rückschlüsse auf die Einstellung der Protestierenden.
"Dass im bürgerlichen Habitus auftretende Demonstranten sich eskalativ verhalten und zur Gewalt neigen, scheint in der öffentlichen Debatte unbegriffen",
schreibt Begrich dazu. Da es von fast jeder Demonstration Bilder gibt, in der bürgerlich gekleidete Nazi-Rentnerinnen und -Rentner ihre Gewaltaffinität ausagieren, ist diese Unbegriffenheit besonders bemerkenswert. Zu beobachten war das rabiate Verhalten von Best Agern am Wochenende mal wieder in einem viral gegangenen Video aus Leipzig, das zeigt, wie Rechtsextremisten auf das Gelände einer Klinik vordringen (allerdings, so viel Genauigkeit muss sein, nicht, um die Klinik anzugreifen, sondern um seitlich aus einem Polizeikessel auszubrechen).
Ein weiteres Problem neben der irreführenden Fixierung auf Äußerlichkeiten: die Überrepräsentanz rechter Aufmärsche in der Berichterstattung (siehe unter anderem das Altpapier vom Freitag der vorangegangenen Woche). Begrich dazu:
"So akut die Gefahr (…) derzeit ist, dürfen wir eines nicht vergessen: Auch im Osten geht bei weitem nicht die Mehrheit der Leute auf die Straße. So demonstrierten auch in Hochzeiten in ganz Sachsen-Anhalt nie mehr als rund acht- bis zehntausend Menschen pro Woche. Zum Vergleich: Zu den Fußballspielen des 1. FC Magdeburg pilgern zu anderen Zeiten im Durchschnitt jede Woche 20 000 Zuschauer. Kurzum: Diese rechten Mobilisierungen leben auch davon, dass jede Demo reproduziert wird, als sei sie eine Massenveranstaltung – von den Extremisten selbst, aber zum Teil auch anschließend von den Medien. Dabei sind bei den meisten Märschen nur zwischen 80 und 350 Teilnehmer dabei."
Wobei die Medien diese Demos auch deshalb eifrig "reproduzieren", weil die "extreme Rechte (…) die vergangenen bald zehn Jahre, von Pegida bis Corona, auch in Sachen Selbstvermarktung perfekt genutzt" hat.
"30 Sekunden zur Flucht"
In welchem Maße heute vor allem in dem Bundesland, das Pegida hervorgebracht hat, die Pressefreiheit beeinträchtigt ist - dem Thema widmet sich die "Süddeutsche Zeitung" heute auf ihrer Seite Drei. Ein Protagonist in der Reportage von Philipp Bovermann und Anna Ernst, die für 79 Cent bei Blendle zu haben ist, ist Klemens Köhler, dessen Initiative "Between the lines" bereits vor zwei Wochen im Altpapier Erwähnung fand.
"(Er) organisiert ehrenamtlichen Begleitschutz für Journalisten, damit diese, wenn es darauf ankommt, ihre 30 Sekunden haben - 30 Sekunden zur Flucht - und zwar nicht in China, Russland oder Somalia, sondern mitten in Deutschland."
Wem Köhlers Leute, hauptberuflich u.a. Sozialarbeiter oder Softwareentwicklerinnen, vor allem helfen:
"Freien Reportern, die oft keine Redaktion im Rücken haben und nicht das Geld für Sicherheitsleute, wie sie die meisten Fernsehteams inzwischen einsetzen."
Eine weitere Protagonistin ist Theresa Hellwig, die für die Bautzener Redaktion der "Sächsischen Zeitung" arbeitet. Sie erzählt:
"Einmal sei einer in ihr Büro gekommen, sagt die Journalistin. Er habe die Tür hinter sich zugezogen, mit einer Zeitungsseite herumgewedelt und gesagt, wenn sie wolle, dass es ihr und den Kollegen hier gut geht, solle sie sowas besser nicht mehr schreiben. Er meinte ein Interview mit einem Experten zum Thema Verschwörungsmythen, ihr Name war mit Leuchtstift markiert. 'Der hatte einen Rucksack dabei. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn der ein Messer gezogen hätte.'"
Wie vor wenigen Tagen im "journalist"-Podcast "Druckausgleich", kommt auch der geringe Altersdurchschnitt der Demoberichterstattenden zur Sprache. So heißt es in einer Passage über einen Demotag in Dresden:
"Drei Fotojournalisten sind heute dabei (…) Zwei von ihnen machen gerade erst ihr Abitur (…) Das Videomaterial, das sie zusätzlich zu den Fotos machen, läuft in den 'Tagesthemen', im MDR, auch bei privaten Sendern."
Einen Eindruck davon, wie konkret die Arbeit von "Between the Lines" aussieht, verdeutlicht schließlich folgende Passage:
"Klemens Köhler führt jetzt ein Video vor, ein Übergriff der Stufe drei. Zu sehen ist ein bärtiger Mann in Windjacke, der bei einer Demo vor den Begleitschützern herumhüpft, sie anrempelt. Er wolle da durch, sagt der Mann, 'bist du Security von der?' Er versucht sich durchzudrücken zur Fotojournalistin, Köhler und ein Begleitschützer schieben ihn zu zweit weg, bevor er sie überwinden kann, doch dann wirft sich ein Kerl mit einem Rucksack gegen sie und versucht, sie abzudrängen. Ein anderer kommt mit erhobenen Fäusten wie ein Boxer, ein dritter mit Glatze geht auf den Pulk zu - dann erst gehen zwei behelmte Polizisten dazwischen."
Dass Polizistinnen und Polizisten "meist nicht auf sich anbahnende Übergriffe gegen Einzelpersonen reagieren", wie Köhler sagt, ist ein Grund dafür, weshalb es Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler geben muss, die Journalistinnen und Journalisten schützen.
Pfusch in Fretterode
Dass Berichterstattende, die sich auf das Thema Rechtextremismus spezialisiert haben, sich nicht auf die Polizei verlassen können - das eklatanteste Beispiel dafür bleibt der Fall Fretterode. 2018 nahmen zwei Neonazis den Tod zweier Journalisten mindestens in Kauf, als sie sie mit einem Auto verfolgten und mit einem Messer und einem Schraubenschlüssel attackierten.
Der "Tagesspiegel" hat am Freitag auf seiner Seite Drei (Blendle-Link) über den Prozess gegen die Neonazis, von denen einer der Sohn des NPD-Funktionärs Thorsten Heise ist, berichtet:
"Der Prozess (ist) auch deshalb spektakulär, da in seinem Verlauf reihenweise Ermittlungsfehler der Polizei ans Licht kommen. Fehler, die so drastisch und unerklärlich sind, dass es schwerfällt zu glauben, hier sei bloß versehentlich schlecht gearbeitet worden."
Von "Pfusch" müsse man sprechen, so "Tagesspiegel"-Autor Sebastian Leber. Denn:
"Da ist zum Beispiel das Täterfahrzeug, mit dem die Angeklagten zurück nach Fretterode flüchteten. Die Polizei entdeckt es auf Thorsten Heises Anwesen. Doch sie stellt es zunächst nicht sicher (…) Stattdessen beobachten die Beamten das Fahrzeug aus der Ferne – und werden so Zeuge, wie sich im Laufe der nächsten Stunden diverse Personen an dem BMW zu schaffen machen und auch Gegenstände daraus entnehmen (…) Erst am Abend des Tattages fährt Heise den BMW vom Gelände und übergibt ihn der Polizei. Im Handschuhfach finden die Beamten später ein Messer. Sie werden es nicht auf Spuren untersuchen. Sie werden nicht ermitteln, ob die Beschaffenheit dieses Messers zur Art der Stichverletzung passt. Sie beschlagnahmen es nicht mal. Von dessen Existenz weiß das Gericht nur, weil die Nebenkläger es auf einem Foto entdecken, das die Polizei im Innenraum des BMW gemacht hat. Wo sich das Messer heute befindet, ist unklar."
Wahrscheinlich wird es in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte nicht allzu viele Fälle geben, in denen Polizistinnen oder Polizisten über einen längeren Zeitraum dabei zuschauen, wie mögliche Beweismittel aus einem Täterfahrzeug entfernt werden. Vieles an dem Fall Fretterode klingt nach Stoff für einen fiktionalen Film. Andererseits: Wenn jemand den Fall als Vorlage für einen Spielfilm anböte, würden viele TV-Redakteurinnen und -Redakteure wahrscheinlich wegen mangelnder Plausibilität abwinken.
Der Flügel-Verteidiger tritt ab
Seit Freitag verständlicherweise ein großes Thema: der neue Mexit. Vor nicht allzu langer Zeit kursierte der Begriff noch, wenn es um Herzogin Meghan und ihren Gatten ging, in Zukunft könnte er auch fallen, wenn es um einen deutschen Mexit geht, also Jörg Meuthens Austritt aus der AfD.
"Nach Abgang von Lucke, Petry, Meuthen: Ist ER jetzt das letzte Bollwerk gegen Rechts in der AfD?" lautet die Schlagzeile zu einem Bild mit Björn Höcke, die sich "Der Postillon" am Sonntag einfallen ließ, und man kann vermuten, dass sich diese Medienkritik unter anderem auf einen Zeit-Online-Kommentar bezog. Der Text erschien unter der Überschrift "Ein gescheiterter Reformer tritt ab" - obwohl Meuthen mit einem Reformer so viel gemeinsam hat wie mit einem Reformhaus-Mitarbeiter.
Der Binnenpluralismus bei Zeit Online soll hier aber nicht unerwähnt bleiben: Sechzehneinhalb Stunden später erschien dort ein weiterer Kommentar in Sachen Meuthen, der nicht als Entgegnung auf den ersten ausgewiesen war, aber so verstanden werden konnte. Lenz Jacobsen schreibt in diesem zweiten Meinungsbeitrag unter der Headline "Ein Mittäter": "Jörg Meuthen sollte nicht als bürgerliches Gewissen der AfD verklärt werden." In Deutschland herrsche "leider immer noch" das "weit verbreitete Missverständnis" vor, "dass für die Erfolge des Rechtsradikalismus nur seine härtesten Ideologen und seine brutalsten Schläger verantwortlich wären".
Jacobsens "Fazit am Ende von Jörg Meuthens Zeit in der AfD" lautet daher:
"Er hat über Jahre entscheidend dazu beigetragen, dass in Deutschland wieder zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler einer Partei die Treue halten, deren rechtsradikaler Kern für alle sichtbar ist, die ihn sehen wollen."
Für "MDR Investigativ" analysiert Jana Merkel, die gemeinsam mit Michael Richter die State-of-the-Art-Doku "Am rechten Rand. Wie radikal ist die AfD?" gedreht hat:
"(Meuthen) verteidigte (…) im Juli 2021 noch den inzwischen formal aufgelösten 'Flügel' und dessen Akteure wie Björn Höcke oder Hans-Thomas Tillschneider mit den Worten: 'Die vertreten Positionen, die meine nicht sind, aber es sind keine Extremisten.'"
Und er hat, so Merkel weiter, die Extremisten, die er vor einem halben Jahr noch nicht so nennen wollte, mehr aus nur verteidigt (siehe auch Jacobsens "Mittäter"-These):
"So trat er auf den Jahrestreffen des sogenannten Flügels als Redner auf und betonte, wie wichtig der Flügel für die AfD sei. Berührungsängste zeigte der Parteichef auch nicht, als er 2018 auf einer Veranstaltung des selbsternannten 'Instituts für Staatspolitik' einen Vortrag hielt. Diese Organisation im sachsen-anhaltischen Schnellroda gilt als zentraler Schulungs- und Vernetzungsort der sogenannten Neuen Rechten, einer Strömung des Rechtsextremismus."
Josef Joffes 15 Jahre alte neue These
"Ist der 'Klimatismus' eine neue Religion?" Fragt gerade die NZZ in einer Überschrift. Der Text dazu erhält erwartungsgemäß Formulierungen aus der Preisklasse "Ist die Erderwärmung zyklisch oder der rasanten Industrialisierung geschuldet?"
Dass es kaum einen größeren Gegensatz als zwischen Religion und Klimawissenschaft gebe, lautet eine der Entgegnungen des ZDF-Klimaexperten Özden Terli. Er verlinkt dazu eine im November 2021 erschienene "Nature"-Grafik, in der sämtliche klassischen Topoi der Bullshitter und Desinformierenden aufgeführt sind, auch "Climate is Religion".
Das Bemerkenswerte an dem NZZ-Text ist allerdings, dass der Autor Josef Joffe ihn in einer nicht unähnlichen Fassung bereits 2007 in der "Zeit" veröffentlicht hat (Den Hinweis darauf verdanke ich der "Tagesspiegel"-Redakteurin @SueEhlerding). Damals war vom "Klimatismus als neue weltliche Religion" die Rede. Auch 2019 verkaufte Joffe diese "Religion" als wieder oder immer noch "neu", der entsprechende Text erschien unter anderem hier unter dem Titel "The Religion of Climatism. A new faith emerges".
Aber damit wir uns nicht missverstehen: Uralte Texte aus eigener Produktion zu remixen, ist grundsätzlich natürlich nicht sittenwidrig.
Altpapierkorb (die "Bild"-Zeitung und die Wissenschaftler, "neun Thesen zur Zukunft der Debatte in sozialen Medien", Neues von den öffentlich-rechtlichen Auslandskorrespondenten)
+++ Unter anderem die taz, die "Süddeutsche Zeitung" und der "Tagesspiegel" berichten den Talk von "Bild"-Chefredakteur Johannes Boie mit diversen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Zumindest bei einigen von ihnen hätte man - Stichwort: "Lockdown-Macher" - ja geglaubt, dass sie es vorziehen, sich nicht mit diesem Mann zu unterhalten.
+++ Unter den "neun Thesen zur Zukunft der Debatte in sozialen Medien", die Johannes Schneider für Zeit Online formuliert, ist auch eine, die zumindest ich als ein Plädoyer für eine Art öffentlich-rechtliches Twitter interpretiere: "Mit etwas Glück blicken wir in ein paar Jahrzehnten mit einer Mischung aus Nostalgie und Belustigung auf jene Phase der Geschichte, als man tatsächlich glaubte, Diskussionen einer demokratischen Gesellschaft könnten in privatwirtschaftlich (de-)regulierten virtuellen Räumen stattfinden. Mit etwas Pech bedauern wir, dass wir nicht früher darauf gekommen sind, dass das alles vollkommen inakzeptabel ist."
+++ Schließlich noch Neues von den Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten: Euphorisches Lob gibt's im SZ-Feuilleton von Marlene Knobloch für die von die fünf Korrespondentinnen und einem Korrespondenten der ARD bestrittene Online-only-Reihe "Liebe, Sex, Tabu - weltweit". Nicht mehr bei der ARD ist dagegen die Auslandskorrespondentin Golineh Atai, die nunmehr seit dem 1. Januar das ZDF-Studio in Kairo leitet. Senta Krasser hat sie für den "Tagesspiegel" (Blendle-Link) porträtiert.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.
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