Teasergrafik Altpapier vom 21. Januar 2022: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 21. Januar 2022 Kipppunkt erreicht?

22. Januar 2022, 14:38 Uhr

Die Corona-Demos bekommen viel Aufmerksamkeit. Dazu mache Medien in der Berichterstattung über sie viele Fehler. Eine andere Frage ist: Geht es da überhaupt noch um Corona? Außerdem: Die EU geht dem Wild West Web an den Kragen. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Demos mit Fallgruben

Das ewige Dilemma des Medienjournalismus ist: Er muss sich auch mit den Dingen befassen, bei denen es vielleicht ganz gut wäre, ihnen gar nicht so viel Aufmerksamkeit zu geben. Aktuell sind das zum Beispiel die Demonstrationen gegen die Corona-Regeln, über die der SPD-Politiker Ulrich Kelber sagt, wie Altpapier-Kollege René Martens in einer sehr ausführlichen und empfehlenswerten Analyse für epd Medien zitiert:

"Jeden Tag lassen sich in Deutschland mehr Menschen erstimpfen, als jemals an einem Tag an Querdenker-'Spaziergängen' teilgenommen haben. Jeden Tag eine Abstimmung mit den Füßen. Die Minderheit marschiert für sich, die Mehrheit als Gemeinschaft."

Die Corona-Demonstrationen stehen aber nun jeden Montag in den Redaktionskalendern, während die vielen Impfungen sich auf sehr wenige unspektakuläre Termine verteilen. Das sichert den Covid-Märschen die Aufmerksamkeit, und als wäre das nicht genug: Medien machen nach Einschätzung von Martens dann auch noch regelmäßig vieles falsch.

Es fängt damit an, dass sie Populismus nicht oder zu wenig einordnen. René Martens nennt als Beispiel die Formulierung "Wirbel nach Maaßen-Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk". Sie werte Maaßens Falschbehauptungen auf – Kritik klingt ja ganz gut – gleichzeitig aber auch die Kritik daran ab, denn Wirbel klingt eher nach einem hysterischen Anfall.

So etwas passiert oft unbewusst. Dass "die Akteure des Politikjournalismus (…) in vielen Beiträgen über die AfD die Perspektiven anderer Parteien" einnehmen, werden viele Berichterstattende schon selbst gemerkt haben. Damit stechen sie sich unfreiwillig ein Schwert in den eigenen Bauch, mit dem normalerweise rechtspopulistische oder rechtsextreme Gruppen kämpfen. Sie stellen die Medien als Partei dar. Das macht ihr Urteil zur Meinung der politischen Gegnerschaft – und damit für die eigene Klientel bedeutungslos.

Außerdem verstellt die Parteinahme laut Martens den Blick darauf, dass es rechtsextreme Einstellungen auch ohne AfD gäbe, und das auch schon, bevor es diese Partei gab und Menschen mit rechtsextremen Einstellungen ihr Kreuz noch bei der CDU oder der SPD machten, was in den Statistiken nicht zu erkennen war. 

Es geht weiter mit der Darstellung der Demonstrierenden, in denen oft die Überraschung mitschwingt, dass die Leute ja aussehen wie ganz normale Menschen. Darin stecken mehrere Trugschlüsse. Martens: "Personen, deren Erscheinungsbild auf eine Zugehörigkeit zum 'bürgerlichen Spektrum' oder zu alternativen oder esoterischen Milieus schließen lässt, vertreten keine rechtsextremen Positionen."

Dazu zitiert Martens den Protestforscher Piotr Kocyba, der darauf hinweist, dass Menschen "gar keine Nazis sein müssen, um unsere Demokratie zu gefährden und Gewaltfantasien Taten folgen zu lassen". Diese Menschen seien "sogar viel gefährlicher als der extremistische Rand der Gesellschaft", unter anderem, so zitiert Martens, "weil sie eine größere Mobilisierungswucht entwickeln". Das Prinzip kannte bereits Gandhi, der friedliche Proteste deshalb für aussichtsreicher hielt, weil sie dann auch familienfreundlich sind und sich mehr Menschen beteiligen. In diesem sind die Proteste nicht immer friedlich, aber Titel ("Spaziergang") und Erscheinungsbild der Märsche wirken harmlos, jedenfalls auf den ersten Blick.

Ein weiteres Problem sieht Martens in der Fixierung auf die Gegenwart und Neuigkeiten, also in einem "nicht allzu weiten Blick zurück". Damit bleibt zum Beispiel unerwähnt, dass viele der Phänomene, die wir zurzeit beobachten, zwar in eine neue Eskalationsstufe gelangt sein mögen, aber überhaupt nicht neu sind.

Machtvakuum auf der Straße

Meine Altpapier-Kollegin Annika Schneider weist im Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" auf eine Fallgrube der Berichterstattung über die sogenannten "Spaziergänge" hin, in die Medien immer wieder stürzen. Sie sprechen von "nicht genehmigten Demonstrationen". Dabei müssen Demonstrationen in Deutschland nicht genehmigt werden, allenfalls angemeldet.

Aaron Moser und Amelia Wischnewski haben Chelsy Haß von der Nordwest-Zeitung für das NDR-Medienmagazin "Zapp" zu so einer Demonstration begleitet. Wenn Chelsy Haß dort auftaucht, wird das gleich den Telegram-Gruppen vermeldet, wie in dem Film auch zu sehen ist. Ulrich Schönborn, Chefredakteur der Nordwest-Zeitung, erzählt, dass er sich das längst nicht mehr alles nur anschaut, sondern inzwischen auch Menschen angezeigt hat, wenn die Drohungen zu weit gingen. Schönborn hat sich um Adress-Auskunftssperren für Reporterinnen und Reporter bemüht. Das illustrieren den erreichten Eskalationsgrad auch sehr gut.

Und dann sagt in einer Einstellung eine Frau, die auf einer Demonstration mitmarschiert, etwas ganz Zentrales: "Das hat mit Corona hier schon lange nichts mehr zu tun, schon lange nicht mehr." Die "Zeit der Aufklärung" sei das Jahr 2020 gewesen. 2021 sei das "Jahr des Widerstands" gewesen. "Und dieses Jahr wird’s kippen", sagt sie.

Die Berichterstattung wird sich möglicherweise schon bald vom Narrativ der Corona-Demonstrationen verabschieden müssen. Der Widerstand gegen die Regeln ist in vielen Fällen das Tor, das ohne große Barrieren den Eintritt in eine Protestbewegung ebnet, in der es vielen längst um etwas Größeres geht als die Impf- oder Maskenpflicht, nämlich um den Kampf gegen ein demokratisches System, das Entscheidungen möglich macht, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Das Verständnis von Demokratie ähnelt hier dem von der DDR-Regierung gepflegten, die ihre Diktatur ja fälschlicherweise auch Demokratie nannte.

Immer öfter kommt es zu Gewalt. Und das verändere die Berichterstattung, hat Ole Kracht von Katapult MV beobachtet. Er sagt: "Für mich entsteht da ein Machtvakuum, auf der Straße, bei Veranstaltungen." Er wisse, dass Texte nicht mehr so geschrieben werden, wie sie geschrieben werden müssten, weil die Menschen, die schreiben, in Kleinstädten leben und sich vor den Folgen fürchten. "Wenn da jemand weiß, dass du Redakteur bist oder Journalist, und deinen Text liest, ist es nicht schwer, bei dir zu Hause mal vorbeizuschauen."

Amelia Wischnewski, die Autorin des Beitrags, berichtet, sie stoße immer öfter auf freie Journalistinnen oder Journalisten, die ihre Berichterstattung einstellen.

Deutschland vs. Telegram

Die toxische App Telegram ist eine Art "Brandbeschleuniger", so hat Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) die Verschwörungsschleuder genannt (Altpapier). Was sich gegen die App machen lässt, hängt auch davon ab, was sie eigentlich ist. Ist sie tatsächlich ein Messenger? So wird sie von vielen wahrgenommen. Oder ist sie ein sogenannter Intermediär, der auch ein bisschen Verantwortung für das trägt, was da so alles über seine Kanäle geht. Darum ging es hier schon am Dienstag.

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) scheint nun dem Rat gefolgt zu sein, den der Medienrechtler Tobias Keber bei "@mediasres" gab. Sie hat angekündigt, Telegram aus den App-Stores werfen zu lassen, wie unter anderem "Der Spiegel" berichtet. Erledigen wird das die App wohl nicht, es gibt auch eine Desktop-Anwendung. Und wer die Software installiert hat, wird lediglich auf Updates verzichten müssen. Aber es wäre immerhin ein erster Schritt, der den Rechtsstaat nicht mehr ganz so hilflos aussehen lassen würde. Bislang wehrte Telegram sich einfach, indem es den deutschen Staat ghostete – oder wie man früher sagte: Es antwortete einfach nicht.

Man kann das allerdings auch genau gegenteilig bewerten. Michael Hanfeld schreibt auf der "FAZ"-Medienseite (€): "Sich an Apple und Google zu wenden (…) ist keine schlechte Idee, zeigt aber nur, wie machtlos die Ministerin ist." Ihre Ankündigung, Telegram abzuschalten, erinnere ihn an das "Nordstream-2-Dilemma" ihrer Partei. Das sei eine "Drohkulisse, deren mäßige Wirksamkeit sich ausgerechnet in Russland erwiesen hat". Sinnvoll wäre es Hanfelds Meinung nach, "zu erklären, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) nicht nur für die bekannten Netzwerkgiganten, sondern auch für Telegram gilt". Außerdem wäre es angeraten, so Hanfeld, "der bestehenden Medienaufsicht, also den Landesmedienanstalten, die Befugnis zu geben, selbst Rechtshilfeersuchen zu stellen". Das sei "gesetzgeberische Kleinarbeit", doch sie führe "unter Umständen weiter als große Sprüche, denen nichts folgt".

Hanfeld schreibt:

"Im Fall von Telegram rächt sich, dass die Politik, namentlich die der jetzigen Regierungsparteien, die mit gigantischer Lobbymacht gerüsteten Digitalkonzerne und Netzwerkunternehmen von gesellschaftlicher Verantwortung und Haftung in jeder Hinsicht freigehalten hat."

Aber das soll sich nun ändern. Das Europaparlament hat sich gestern auf eine gemeinsame Position zum sogenannten Digital Services Act geeinigt, kurz DSA (Altpapier). Isabelle Klein fasst den aktuellen Stand für "@mediasres" sehr gut zusammen.

Kurz zur Erinnerung. Worum geht es noch mal? Im Wesentlichen um zwei geplante Gesetze. Der Name des anderen ist Digital Markets Act, also DMA. Isabelle Klein:

"Während der DMA faire Wettbewerbs-Bedingungen für Konkurrenten und Geschäftspartner der großen Techfirmen schaffen will, soll der DSA dafür sorgen, dass Online-Plattformen mehr gegen illegale Inhalte tun und mehr Transparenz schaffen müssen."

Das Prinzip, das dahinter stehen soll, beschreibt die dänische Sozialdemokratin Christel Schaldemose im dazugehörigen Beitrag von Stephan Ueberbach: "Alles, was offline verboten ist, muss auch online verboten sein."

Konstanze Nastarowitz, Kim Kristin Mauch und Caroline Schmidt haben für "Zapp" mit Fachleuten über das Vorhaben gesprochen, unter anderem mit dem Innsbrucker Rechtsprofessor Matthias Kettemann. Er sagt, das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz nehme "sich aus wie ein 'Zahnstocher' im Vergleich zu dem 'Schweizer Taschenmesser'", das die EU nun plant.

Konzerne müssten nach den EU-Plänen nicht nur "Morddrohungen und Aufrufe zum Umsturz" löschen und melden, sondern auch "alle Arten von illegalen Aktivitäten". Julia Reda sieht positiv, dass das Gesetz keine Löschfristen vorsieht. Damit müssen nicht die Unternehmen strittige Entscheidungen treffen, sondern können auf die Gerichtsentscheidung warten.

Patrick Breyer, Europa-Abgeordneter der Piratenpartei, hält es einerseits für gut, gegen illegale Inhalte vorzugehen, oft verdränge man Menschen so allerdings nur in andere Kanäle, und es drohten "immense Kollateralschäden für unsere offene Gesellschaft".

Ein solcher Kollateralschaden könnte sich aus Artikel 9 ergeben. Dort geht es um die "Auskunftsanordnungen". Breyer fasst den Inhalt für "Zapp" wie folgt zusammen: "Ganz konkret bedeutet das, dass Behörden ohne richterlichen Beschluss Surfprotokolle anfordern dürfen." In Ländern wie Polen und Ungarn könnte das für die Menschen schnell spürbare Folgen haben.

Im Gesetzgebungsverfahren geht es nun mit dem sogenannten Trilog weiter. EU-Parlament, Kommission und Rat müssen sich einigen. Den Plänen nach soll das bis Ende Juni gelingen.


Altpapierkorb (Radio Bremen, Medienpolitik 2022, Friedrich-Ebert-Stiftung, Ippen-Investigativteam geht, Corso, BBC und Idioten, Wikipedia soll weiblicher werden)

+++ Auf der "FAZ"-Medienseite antwortet Olaf Joachim (€), Bevollmächtigter des Stadtstaats Bremen beim Bund, Staatsrat für Medienangelegenheiten und ZDF-Fernsehratsmitglied, auf den Debattenbeitrag von Hans-Günter Henneke, der inzwischen frei verfügbar ist, wie wir gestern schon schrieben. Es geht vor allem um die Frage, ob Bremen eine eigene Rundfunkanstalt braucht. Joachim bricht eine ganze Lagerhalle voller Lanzen für ein eigenständiges Radio Bremen. Hauptargument: die Bremer Landesverfassung. Joachim: "Einen eigenen, 'der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen' entsprechenden Beitrag in der Öffentlichkeit ganz Deutschlands leisten zu wollen ist auch leitend für das Festhalten Bremens an einer eigenen Landesrundfunkanstalt."

+++ Helmut Hartung hat für Medienpolitik.net mit Oliver Schenk (CDU), dem Chef der sächsischen Staatskanzlei, und Rainer Robra (CDU), Staatskanzlei-Chef und Kulturminister in Sachsen-Anhalt, darüber gesprochen, was in der Medienpolitik ihrer Einschätzung nach in diesem Jahr wichtig wird.

+++ Dann möchte ich noch auf zwei Impulspapiere der Friedrich-Ebert-Stiftung hinweisen. Maren Beaufort analysiert in der Reihe zum Stand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa die aktuelle und besondere Situation in Österreich. Titel: "Gewappnet für die Zukunft?". Und Maren Urner schreibt in einem neuen Papier über konstruktiven Lokaljournalismus. Titel: Konstruktiver (Lokal-)Journalismus.

+++ Die Zusammenarbeit zwischen dem Ippenverlag und seinem Investigativ-Team hat die Blutgrätsche von Verleger Dirk Ippen nun doch nicht überstanden. Das Team löst sich auf und verlässt den Verlag, berichtet Medieninsider. Drepper bestätigt bei Twitter, er habe zum 31. März gekündigt. Was Daniel Drepper und Marcus Engert machen werden, ist noch nicht klar. Daniel Drepper schreibt, er beteilige sich nicht an Spekulationen. Katrin Langhans und Juliane Löffler gehen zum Spiegel, wie Medieninsider gestern berichtete. Inzwischen hat es auch das Unternehmen gemeldet.

+++ Der WDR will sein interkulturelles Hörfunk-Programm Corso digitaler machen, schreibt David Muschenich für die taz. Das bedeutet: "Das Budget soll zur Hälfte ins Radio und zur Hälfte ins Internet fließen. Neue Podcasts sind geplant und die journalistischen Formate sollen in sozialen Netzwerken erweitert werden." Aber das bedeutet auch: Es ist wieder eine Entscheidung gegen ein spezielles Nischenangebot, das es so bei privaten Sendern nicht geben würde. Und es ist eine Entscheidung für das Durchschnittsprinzip. Darum ging es im vergangenen Jahr im Altpapier immer wieder, zum Beispiel hier.

+++ Die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy schreibt auf der SZ-Medienseite einen sprachlich überschäumenden Gastbeitrag über "die Vernichtung der BBC". Hier als kleine Kostprobe eine Passage über Boris Johnson: "Unser Premierminister Boris Johnson ist das, was man bekommt, wenn man einen Haarklumpen aus Evita Perons Duschabfluss zur Verzierung einer Scherzartikel-Kerze aus Körperfett verwendet, abgesaugt von Pol Pot und John Wayne Gacy. Und natürlich umgibt sich der Premier mit Sadisten, Deformierten, ausländischen Vermögenswerten und Fanatikern, vor allem aber mit Idioten."

+++ Nur 17 Prozent der Biografien in der Wikipedia sind Biografien von Frauen. Agnes Bührig berichtet für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" über eine Schreibwerkstatt in Hannover, die den Anteil der Frauen erhöhen will, die für die Wikipedia schreiben.

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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