Teasergrafik Altpapier vom 14. Januar 2022: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 14. Januar 2022 Langer Atem

14. Januar 2022, 11:35 Uhr

Helfen 101 Datenschutz-Musterklagen Europas digitaler Souveranität doch noch auf die Sprünge? Das NetzDG nützt, und Telegram tut was, lauten weitere gute Neuigkeiten aus der Digitalpolitik. Außerdem: "Ästhetische Diversität" bei den Öffentlich-Rechtlichen? Und hatte Alexander Kluge 1985 das Smartphone vorausgeahnt? Ein Altpapier von Christian Bartels.

101 Probleme für US-amerikanische Clouds?

"Safe Harbor" und "Privacy Shield": Diese euphemistischen Anglizismen bezeichneten Vereinbarungen, die der Europäische Gerichtshof wegen allzu geringen Schutzes europäischer Daten in den USA jeweils für unzulässig erklärte. In der Internet-Praxis spielt das kaum eine Rolle. Trotzdem fließen so gut wie alle Daten weiter über US-amerikanische Anbieter und zu ihnen. Wer sich unbedingt sorgen will, könnte bis sollte das eher darüber tun, welche Daten wegen Soft- und Hardware wie Tiktok oder Huawei außerdem in China gespeichert werden. Jetzt aber könnte Schwung in die Beachtung des EuGH-Urteils kommen.

"Die DSB hat eine sehr detaillierte und fundierte Entscheidung erlassen. Die Quintessenz ist: EU-Unternehmen können keine US-Cloud-Dienste mehr nutzen",

sagt zumindest der österreichische Datenschutz-Aktivist Max Schrems (dessentwegen das "Privacy Shield"-Urteil auch "Schrems II" heißt) auf noyb.eu. NOYB steht für "None of your Business", DSB steht für die österreichische Datenschutz-Behörde (mit höchst behördlichem Internetauftritt). Der Entscheidung zufolge verstößt der Google-Dienst Google Analytics gegen die Datenschutzgrundverordnung. Meldungen haben neben verlässliche Digital-News-Portalen wie heise.de vor allem österreichische Medien wie der Standard. Überschätzen da Österreicher die Bedeutung österreichischer Urteile? Die techcrunch.com-Schlagzeile "bad news for US cloud services" spricht dagegen. Und bei noyb.eu erklärt Schrems:

"Wir haben 101 Beschwerden in fast allen Mitgliedstaaten eingereicht, und die Behörden haben die Entscheidungen koordiniert."

Da die sehr zahlreichen, in Deutschland bekanntlich auf Bundesländer-Ebene organisierten Datenschutzbehörden zusammengearbeitet hätten, erwartet er "ähnliche Entscheidungen" in anderen EU-Mitgliedstaaten.

Um welches Portal es bei der ersten von womöglich 101 Entscheidungen geht, erwähnt noyb.eu nicht. Das tut Barbara Wimmer auf futurezone.at: Das Gesundheitsportal netdoktor.at ist's, das in seinem Impressum als Sitz die Arabellastraße in München nennt, ergo wie sein Pendant mit .de- Länderkennung zu Burda gehört. Womit sich hier mal keine schärfere Kritik an Burda verbindet. Sehr viele Portale setzen Googles Tracking-Tool bislang ein. Auch der  futurezone.at-Artikel enthält weiiit unten den Disclaimer, dass auch dort "Services wie Google Analytics genutzt" werden.

Was "Google Analytics" genau ist? "Eines der am meisten verwendeten Werkzeuge, um das Nutzungsverhalten von Webseitenbesuchern zu analysieren und eigene Services auf diese maßzuschneidern", schreibt der Standard. Und futurezone.at zitiert Google selbst:

"Analytics hilft Einzelhändlern, Regierungen, NGOs und vielen anderen Organisationen zu verstehen, wie gut ihre Websites und Apps für ihre Besucher funktionieren - aber nicht, indem Einzelpersonen identifiziert oder im Web verfolgt werden. Diese Organisationen, nicht Google, kontrollieren, welche Daten mit diesen Tools gesammelt und wie sie verwendet werden..."

Wobei Dienste, die der Plattformkapitalismus vermeintlich gratis anbietet, außer vielleicht denen, die sie anwenden, vor allem auch Konzernen wie Amazon, Apple und eben Google verstehen helfen, welche Apps, Tools und Geschäftsmodelle am besten funktionieren. Übrigens ging Google Analytics schon mal, weiter unter ferner liefen, durch die Digitalmeldungs-Spalten etwa bei golem.de. Ich hatte mich am Mittwoch dagegen entschieden, diese Nachricht in den Altpapierkorb zu nehmen, weil die Kritik des EU-Datenschutzbeauftragten an einer Coronatest-Webseite des EU-Parlaments nicht sehr brisant und eher schwer erklärbar erschien. Allerdings: Einer der Beschwerde-Gründe war wie gesagt der Einsatz von Google Analytics, und beschwert hatte sich ebenfalls NOYB.

Könnte also sein, dass der sehr lange Atem, den Max Schrems' Initiative zeigt, und die den höchst dezentralen europäischen Strukturen enstprechende breite Streuung der Musterbeschwerden nun doch Früchte tragen.

Neuigkeiten aus der Netzpolitik (darunter gute!)

Was macht die deutsche Netz- und Medienpolitik? Auf Bundesebene bemüht sie sich, sich halbwegs zu sortieren. Im Bundesministerium für Digitales und Verkehr, wie das vormalige Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur inzwischen heißt, gibt es nun ein "Neuigkeitenzimmer". Der neckische Begriff entzaubert vielleicht den längst überstrapazierten Anglizismus "Newsroom". [Nachtrag um 11.30 Uhr: Nö, der Begriff stammt doch schon vom Vorgänger, Verkehrsminister Scheuer; danke für die Hinweise.] Und dass das keineswegs kleine Team noch nicht sehr viele Neuigkeiten aufbereiten konnte, liegt natürlich daran, dass die neue Bundesregierung noch nicht lange amtiert.

Dass in Kürze die Ergänzung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes in Kraft tritt, durch die rund "150.000 neue Strafverfahren" erwartet werden (Altpapierkorb), wurde noch von der vorigen Regierung beschlossen. Dazu gibt es eine, wenn man so will, gute Neuigkeit: Das umstrittene NetzDG hilft doch. Es habe "geholfen, Hassrede auf Twitter signifikant zurückzudrängen", und zwar um "rund zehn Prozent", entnimmt netzpolitik.org einer Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Für diese Studie wurden "zwei Millionen Tweets aus 2016 bis 2019" "automatisiert auf die Toxizität" untersucht, und zwar im deutsch-österreichischen Vergleich – also im gleichen Sprachraum, aber mit unterschiedlichen Gesetzeslagen (denn das NetzDG ist, anders als die DSGVO, kein EU-weites, sondern bloß ein deutsches Gesetz).

Zu den zahlreichen offenen Baustellen gehört der Umgang mit Telegram. Nach Mehrheitsmeinung deutscher Regierungspolitik fällt der Messengerdienst inzwischen doch auch unters NetzDG, nach eigener Ansicht nicht. Die neue Innenministerin Nancy Faeser sprach in einem langen Zeit-Interview (€; heise.de-Meldung) von einer angestrebten "europäischen Regelung", aber auch der Möglichkeit des "Abschaltens" – freilich ohne zu sagen, wie das praktisch gehen könnte (und ohne dass die Zeit-Interviewer nachgefragt hätten). Ob die EU-Gesetze "Digital Markets" und "Digital Services Act", über deren Ausgestaltung derzeit verhandelt wird, viele der sehr vielen Wünsche, die von sehr, sehr vielen Seiten an sie gerichtet werden, erfüllen, und wie die neue Bundesregierung sich (hoffentlich) an den Verhandlungen beteiligt, bleibt eher unklar.

Da hat wiederum netzpolitik.org nochmals eine gute Neuigkeit, nämlich, dass Telegram jetzt doch "gegen manche Inhalte aus der deutschen Verschwörungsszene vorgeht":

"Betroffen sind mindestens sechs Kanäle und Gruppen aus der Verschwörungsszene. Die Einschränkungen gelten nur für Nutzer:innen, die Telegram aus dem Google Play Store oder dem App Store von Apple heruntergeladen haben. Wer Telegram aus anderen Quellen bezieht oder etwa auf dem Laptop nutzt, kann die eingeschränkten Inhalte weiterhin sehen."

Was also dafür spricht, dass Google und Apple, deren Appstores zu den wichtigsten Verbreitungswegen gehören, den auch von Faeser im Dezember schon geforderten Druck machen und Telegram darauf reagiert. Die Namen der Kanäle nennt netzpolitik.org mit Absicht nicht oder zumindest leicht verschlüsselt ("Einen ... betreibt ein ehemaliger Russland-Korrespondent des Focus ...").

Das Problem bleibt schwierig und vielschichtig. Dass es zu kurz greift, Telegram allein aus deutscher Sicht zu betrachten, unterstreicht der Beitrag "Telegram: Hass in Deutschland und Chance in totalitären Staaten" im neuen KNA-Mediendienst, der allerdings ausschließlich für eingeloggte Nutzer lesbar ist. Und dass Deplatforming nicht automatische eine gute Lösung ist, weil die Entplattformten auf andere, im Zweifel noch radikalere oder radikalisierende Plattformen weiterziehen, ist inzwischen halbwegs bekannt. Aufmerksamkeit verdient die US-amerikanische Plattform gettr.com, auf der inzwischen auf deutsch begrüßt wird, wer sie aus Deutschland aufruft. Dort "haben Rechte und Verschwörungstheoretiker eine neue Heimat gefunden", berichtet t-online.de. Unter den mehr als drei Millionen Nutzern befänden sich rund "250.000 ... aus Deutschland", darunter das eben nur indirekt erwähnte Reichweiten-Zugpferd Boris Reitschuster.

Die ÖR-Auftrags-Diskussion nimmt Fahrt auf

"Nur noch heute!" Dieser beliebte, äh, Call for Action trifft auch auf die Möglichkeit "zur Stellungnahme, für Anmerkungen und Feedback" zum Diskussionsentwurf über den Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen.

Tatsächlich zieht diese Idee der Bundesländer-Medienpolitik in der letzten Woche allerhand Aufmerksamkeit auf sich. Der am Mittwoch im Korb erwähnte konstruktive FAZ-Gastbeitrag, in dem das ZDF-Fernsehrats-Mitglied Hans-Günter Henneke die Idee einen "schlechten Witz" nennt, steht inzwischen frei online. Heute auf der FAZ-Medienseite fordert der Mainzer GeschichtsProfessor Andreas Rödder in einem kürzeren Beitrag Aufmerksamkeit für Claus Klebers Abschieds-Interviews und den "Beutelsbacher Konsens".

Von ganz anderer Seite kommt ebenfalls Aufmerksamkeit. In einem lesenswerten Rundumschlag-Grundsatzbeitrag auf heise.des Telepolis zitiert Rüdiger Suchsland nicht nur, aber wiederholt "den großen Alexander Kluge, Filmregisseur und konkreter Denker, der in wenigen Wochen unfassbare 90 Jahre alt wird", und zwar aus dem 1985 erschienenem Buch "Industrialisierung des Bewußtseins" ("Es ist, als ob Alexander Kluge das Smartphone und die Algorithmen und die Verschmelzung von Körper und Maschine, die wir jetzt gerade gegenwärtig in vielen kleinen Details unseres Alltagslebens erleben, vorausgeahnt hätte").

Außerdem fordert er sozusagen die aus leicht rätselhaften Gründen ins Amt der Kultur- und Medienstaatsministerin gelangte Claudia Roth auf, aktiv zu werden. Sie könnte

"... umso mehr politisch bewirken. Gerade weil das Thema jenseits ihrer offiziellen Zuständigkeit liegt, durchaus aber die Kernthemen ihrer Zuständigkeit betrifft, kann sie Vorschläge machen und Wünsche äußern."

Und über das Problem der (Kino-) Filmförderung, die in Deutschland ja auch ein auf komplizierte Weise föderalistisch-zentral und größerenteils öffentlich-rechtlich verkrustetes bis verkorkstes Problemfeld ist, geht es im Telepolis-Longread dann zu den Mediatheken. Da verwendet Suchsland einen Begriff, der sonst vor allem im Zusammenhang mit Google und Co auftaucht:

"Die öffentlich-rechtlichen Sender nehmen in der dualen Rundfunkordnung nicht nur durch ihre Finanzierung und die Rechtekonzentration im Bereich fiktionale Auftragsproduktion eine feste und beherrschende Stellung ein. Die Sender stellen auch durch die ihnen eingeräumte Möglichkeit, eigene Produktions- und Rechteverwaltungs-Firmen zu betreiben (zum Beispiel: Bavaria, Studio Hamburg, Network Movie, Degeto), eine eigene Wirtschaftsmacht in der Branche dar, die mit ca. 1/3 aller Umsätze in diesem Bereich als absolut markbeherrschend gelten muss."

Zwar beherrschen Google, Facebook und Co ihre  globalen Märkte eher zu 80 bis 90 Prozent statt bloß zu einem Drittel. Aber die Markt-Bedeutung der deutschen Öffentlich-Rechtlichen mit ihrer sehr sicheren Finanzierung verdient definitiv mehr Beachtung als sie in den meisten Öffentlich-Rechtlichen-Diskussionen erhält. Dass ARD und ZDF in ihren Mediatheken "ästhetische Diversität praktizieren" sollten (nochmal Suchsland), statt durch verwechselbar formatierten Krimi-Folgen mit der jeweils anderen Senderfamilie zu konkurrieren, ist da nur ein Aspekt.

Also fast schade, dass der Funke des grundsätzlichen öffentlichen Diskutierens über den Auftrag so spät übergesprungen ist. Andererseits, angesichts des langen Atems und/oder der langsam mahlenden Mühlen scheint klar, dass die der Öffentlich-Rechtlichen-Diskussionen in den kommenden Monaten und Jahren weitergehen werden. 


Altpapierkorb (Vierteljahrhundert Kika, elektrisierte französische Mediendebatte, allerwenigste Schlagzeilen)

+++ Das zwar nicht rundeste, aber klangvollste Jubiläum für Medien, Institutionen und dergleichen, die noch keine 50 Jahre auf dem Buckel haben, ist das vierteljahrhundertjährige. 25 Jahre alt wird gerade der Kinderkanal/ Kika, der ja in Erfurt beim MDR Thüringen (bei dem auch das Altpapier erscheint) sitzt. Dazu gibt es Würdigungen etwa im Tagesspiegel. "Selbst bei den sogenannten Pre-Teens, also den 10- bis 13-Jährigen, bei denen der Kika nicht unbedingt als cool gilt, war zuletzt ein zweistelliger Marktanteil drin", schreibt dwdl.de (mit Bernd das Brot-Foto aus der Erfurter Fußgängerzone).

+++ Französische Debatten spielen anders als US-amerikanische in Deutschland weitestgehend keine Rolle. Aber hier mal: Bei uebermedien.de nimmt Samira El Ouassil die in Frankreich "wie elektrisiert" geführte Diskussion über Interview und Gesang des belgischen Sängers Stromae in der Nachrichtensendung "Journal de 20 heures" auf ("Der Auftritt hatte eine Wucht und Strahlkraft, die offenbar ein breites Publikum berührte wie beschäftigte. An das große Gefühl des Staunens in mir schmiegten sich aber auch zwei kritische Momente ...").

+++ Und die begründete Ansicht, dass Rankings, die naturgemäß immer erstplatzierte und damit mindestens einen Superlativ generieren, helfen, Aufmerksamkeit zu schaffen, setzt die Hilfsorganisation Care dialektisch um. Sie erstellte eine Rangliste der "zehn humanitären Krisen, die 2021 keine Schlagzeilen machten", welche nun tatsächlich einige Aufmerksamkeit erregt (z.B. Standard, t-online.de). Auf dem traurigen ersten Platz liegt Sambia, weshalb hier nochmals der Altpapier-Jahresrückblick zum Thema Afrika empfohlen sei.

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

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