Teasergrafik Altpapier vom 6. Januar 2022: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 6. Januar 2022 Wie bei Pegida

06. Januar 2022, 12:23 Uhr

Was deutsche Kommentatorinnen und Kommentatoren bei rechten Aufmärschen 2015 und 2016 nicht sahen oder sehen wollten, sehen oder wollen sie auch bei den rechten Aufmärschen von heute nicht sehen. Außerdem auf der Agenda: die Herausforderungen für Klimajournalisten sowie für Politikjournalisten, die über Mode schreiben. Ein Altpapier von René Martens.

Der Wunsch nach brennenden Medienhäusern

Am Dienstag lag es nahe, an dieser Stelle darauf einzugehen, dass die Polizei am Montagabend das Gebäude des ZDF-Hauptstadtstudios vor Rechtsextremisten schützen musste. Als dann am Mittwoch Jan-Henrik Wiebe für tagesschau.de darüber berichtete, dass es "seit Mitte November auf Telegram täglich Tötungsaufrufe gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien gibt", dürfte bei jenen, die sich im Gebäude aufgehalten haben, die Beklemmung vielleicht noch etwas größer gewesen sein als während der Ereignisse.

Denn: Unter den von Wiebe zitierten Aufrufen "insgesamt eher älterer Menschen" (der Autor im Interview mit Tagesschau 24) befinden sich auch solche: "Vielleicht sollten wir wirklich die ARD und das ZDF abfackeln um ihre Medienpropaganda Maschine kaputt zu machen", "Warum brennen die Medien noch nicht, ich meine die Gebäuden […] wo der dreck ausgestrahlt wird?" und "Macht den Propaganda Laden dem Erdboden gleich. Volksverräter an den Galgen" (unter Bezug auf die SZ).

"Polizei und Verfassungsschutz haben Telegram leider noch nicht wirklich im Visier, die ermitteln dann meistens, wenn ihnen etwas gemeldet wird", sagt Wiebe im erwähnten Interview dann auch noch, und vielleicht passiert das ja in diesem Fall auch noch, denn im Dezember nach Recherchen von "Frontal" zu bei Telegram publizierten Mordanschlagsplänen auf Michael Kretschmer haben die Generalstaatsanwaltschaft Dresden und das LKA Sachsen es ja auch getan (Altpapier).

Das Déjà-vu eines Protestforschers

Anfang Dezember haben Forscherinnen und Forscher der TU Chemnitz, der FU Berlin und der Universität Wien das Arbeitspapier "Rechte Proteste erforschen. Erfahrungen und Reflexionen aus der qualitativen und quantitativen Forschung" veröffentlicht, und um dieses noch ein bisschen besser zu verbreiten (zumal angesichts der Aktualität des Themas), hat die TU Chemnitz Piotr Kocyba interviewt, einen der Mitherausgeber aus ihrem Hause. Er hat bei den Corona-Demos "den Eindruck, ein Déjà-vu zu erleben":

"Wie bei Pegida wollten es viele Beobachterinnen und Beobachter, Kommentatorinnen und Kommentatoren sowie Politikerinnen und Politiker zunächst nicht wahrhaben, dass wir es hier mit Personen zu tun haben, die gar keine klassischen Neonazis sein müssen, um unsere Demokratie zu gefährden und Gewaltphantasien Taten folgen zu lassen. Solche Personen sind sogar viel gefährlicher als der extremistische Rand der Gesellschaft, weil sie eine größere Mobilisierungswucht entwickeln, äußerst rechtes Gedankengut hervorragend normalisieren und von der Mehrheitsgesellschaft nicht ansatzweise vergleichbar wie Neonazis stigmatisiert werden."

Von einem anderen Déjà-vu (bezogen auf das Thema Vernetzung) spricht der Rechtsextremismus-Experte und Zeit-Autor Christian Fuchs in einem Thread:

"Hinter der Vernetzung der Coronamaßnahmenproteste stehen die gleichen extremen 'Neuen Rechten', die bereits 2016 versucht haben, die Geflüchteten politisch zu instrumentalisieren."

Da Piotr Kocyba "Kommentatorinnen und Kommentatoren" erwähnt, die das, was offensichtlich war, "zunächst nicht wahrhaben" wollten, muss man natürlich ergänzen: Der Anteil jener, die es immer noch "nicht wahrhaben" wollen, ist ja leider sehr groß.

Bilder, die kaum auszuhalten sind

Im Altpapier vom Dienstag ging es im Zusammenhang mit dem heutigen Jahrestag des Umsturzversuchs in den USA etwas ausführlicher um die Arte-Dokumentation "Der Sturm aufs Kapitol" - und am Rande um den heute in der ARD zu sehenden, ohne bestimmten Artikel im deutschen Titel auskommenden Film "Sturm aufs Kapitol".

Wie finden die Rezensenten Letzteren? "Der Film hinterlässt den verstörenden Eindruck bürgerkriegsähnlicher Ausschreitungen", schreibt der Tagesspiegel. "Regisseur Jamie Roberts (…), hat ungleich mehr Bildmaterial ausgewertet als on- wie offline ohnehin verfügbar ist (…) Selten war eine Dokumentation fesselnder. Und selten furchteinflößender", urteilt das ND. Was auch damit zu tun haben könnte, dass man bei vielen Szenen in Roberts' Film, die Auseinandersetzungen zwischen Mob und Sicherheitskräften zeigen, an die Bilder deutscher Umsturzwilliger denken muss, die gerade ungefähr jeden Abend Polizeiketten durchbrechen oder es zumindest versuchen. Und Anne Burgmer meint im Kölner Stadt-Anzeiger:

"(Trumps) Ansprache, er danke den Demonstranten, aber nun sollten sie friedlich nach Hause gehen, wirkte schon damals wie Hohn. Hat man 90 Minuten lang diese Bilder gesehen, sind sie kaum auszuhalten."

Die undankbare Herausforderung für den Klimajournalismus

Noch lange nicht vorbei ist die Zeit der Jahresrückblicke und der jahresrückblick-ähnlichen Texte. In letztere Kategorie fallen die umfangreichen "Lektionen aus 2021 für Journalisten – und alle anderen", die Samira El Ouassil für Übermedien formuliert hat. Um das Thema #Ausgebrannte Presse (siehe Altpapier vom Dienstag) geht es hier auch (in Lektion 4), ich konzentriere mich an dieser Stelle aber mal auf "Lektion 2: Wissenschaftsjournalismus und journalistisches Arbeiten als Wissenschaft", weil hier Aspekte eine Rolle spielen, die in meinem Altpapier-Jahresrückblick zu Klima und Corona anklingen oder mitschwingen. Unter anderem geht es dabei um folgende "Herausforderungen":

"Die Klimakrise findet sowohl unmittelbar vor unserem Fenster statt – wie wir es 2021 etwa an den folgenreichen Hochwassern sehen konnten – als auch in einer Art Zeitlupe über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg. Die Nachrichtenagenden von Redaktionen sind in vielerlei Hinsicht nicht auf solch einen Wandel ausgerichtet."

Für Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten ergebe sich daraus "eine Sonderrolle":

"Diese Rolle wird ihnen oft zu ihrem Nachteil ausgelegt, die Berichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Zukunft betreffen, als Alarmismus, dem genauen Gegenteil von gutem Journalismus, deklariert. Ihre Aufgabe wird sich zusehends mit der von Politikjournalist*innen überschneiden müssen. Wenn Wissenschaftsjournalist*innen auf Grundlage ihrer Expertise politische Entscheidungsträger*innen zur Rechenschaft ziehen, wird dies mitunter als Überschreitung ihrer Pflichten angekreidet. Diese undankbare Konstellation wird auch noch verstärkt durch die Tatsache, dass Wissenschaftsjournalisten oft eine Politik kritisieren, deren volle Auswirkungen sie und das Publikum wohl gar nicht mehr erleben werden. Schlechtestenfalls werden sie als nebulös warnende Kristallkugelwichtigtuer und Angstmacher abgestempelt."

Eine im guten Sinne alarmistische Doku lief gestern Abend im WDR Fernsehen: "#KlimaAlarm: Sind wir noch zu retten?". Der Film ist auch eine Art Jahresrückblick, sowohl auf die, um es mit Samira El Ouassil zu sagen: Klimakrise "vor unserem Fenster" (Stichwort: Flut) als auch die im Mittelmeerraum (Stichwort: Waldbrände). Natalie Amiri, die für die ARD über diese Waldbrände berichtet hat, sagt in "#Klimaalarm":

"Ich bin bin vielen Kriegsgebieten unterwegs, aber die Klimakrise ist massiver. Für Krieg gibt es irgendwann mal, hoffentlich, ein Friedensabkommen"

Aber:

"Die Klimakrise ist weder durch eine Impfung eindämmbar noch durch eine Friedensverhandlung."

Und wer danach in der richtigen, tja, Stimmung ist, kann sich beim ZDF noch den zweiten Teil von "Arctic Blue – Machtpoker im schmelzenden Eis" anschauen (siehe Tagesspiegel von Mittwoch).

Politikjournalisten brauchen Modekompetenz

Journalistinnen und Journalisten, die über die Mode von Politikerinnen schreiben, werden oft (und zu Recht) dafür kritisiert, dass sie Äußerlichkeiten wichtiger nehmen als die politischen Positionen der Politikerinnen und über diese auf eine Weise schreiben, in der über männliche Politiker niemals geschrieben werden würde.

Rahul Bhargava, Meg Heckman und Emily Boardman Ndulue vertreten in einem Artikel fürs Nieman Lab nun aber eine andere Position, die etwas verkürzt lautet: Es ist nicht problematisch, dass über die Mode von Politikerinnen geschrieben wird, sondern wie.

"Viele Frauen, die sich für ein gewähltes Amt bewerben", verwendeten "Mode als Statement zu ihrer Biografie, ihrer Ideologie und ihrem Platz in der Geschichte" - allerdings "in einem Medienumfeld, in dem Frauen immer noch ganz anders behandelt werden als ihre männlichen Kollegen, oft auf eine Art und Weise auf die körperliche Erscheinung fixiert, die mächtige Frauen als Sexobjekte, Prominente oder übermäßig maskuline Schurkinnen trivialisiert".

Diese "Dynamik", so das Autorinnentrio, bedeute eine "Herausforderung" für Journalisten, und es sei "klar", dass sie "Schwierigkeiten haben, geeignete Wege zu finden, um politische Modeentscheidungen zu framen, wie die anhaltenden Debatten darüber zeigen, was (und was nicht) berichtenswert ist".

Warum die Autorinnen es in Ordnung finden, dass "Journalisten über Mode schreiben, wenn sie über mächtige Frauen berichten", begründen sie so:

"Modebezogene Narrative zu ignorieren, würde bedeuten, moderne Politik unvollständig darzustellen."

Worauf es ankommt:

"To understand how and when female politicians embrace fashion as a statement of power."

Und um das zu verstehen, könnten sich jene, die über Politik schreiben, dann auch gern mal mit den Kolleginnen und Kollegen des Moderessorts verständigen.


Altpapierkorb (Schmerzensgeld für Sawsan Chebli, deutsches Beitrags- und Fördergeld für einen Film mit einem ukrainischen Neonazi)

+++ Dass die Sozialdemokratin Sawsan Chebli beim Landgericht Berlin 10.000 Euro Schmerzensgeld erstritten hat, weil ein Tichys-Einblick-Kolumnist sie mit Äußerungen bedachte, die das Gericht als "Verletzung der Menschenwürde und eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung" einstufte, wie die taz unter Berufung auf Cheblis Anwalt Christian Schertz schreibt - das nimmt Carolina Schwarz, die Autorin des taz-Beitrags, zum Anlass für die Hoffnung, dass "Konsequenzen" für künftige "Täter:innen bald das neue Normal sind". Der Täter in diesem Fall heißt übrigens Stephan Paetow, und obwohl der Bursche eine Ewigkeit Redakteur bei Focus war, nennen die Genies von Focus Online ihn Stefan.

+++ Nicht ganz unproblematisch ist es möglicherweise, dass sich die Arte-Redaktion des ZDF als Coproduzent und das Medienboard Berlin-Brandenburg mit 150.000 Euro als Förderer an dem Spielfilm "Rhino" beteiligt haben, weil für diesen als Laiendarsteller ein bekannter ukrainischer Neonazi rekrutiert wurde, der dort zumindest teilweise sich selbst spielt. Darauf gehen die Belltower News ein. Laut Autor Nicolas Potter sagt das Medienboard dazu, "der Film wende sich ausdrücklich gegen Hooligans und Neonazis und die Hauptfigur werde in dieser Rolle keinesfalls heroisiert, sondern ganz im Gegenteil".

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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