Das Altpapier am 4. Dezember 2017 Story ist Fiktion
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Deniz Yücels Einzelhaft wird gelockert. Stefan Raue gibt sich transparenter als Volker Herres. Stefan Niggemeier zerlegt die Merkel-Berichterstattung des "Stern". Der Medienpolitiker Rainer Robra will "Mehr vom Dritten im Ersten". Und: Wird Marc Jan Eumann heute gewählt? Ein Altpapier von Klaus Raab.
Die gute Nachricht zuerst: Der Welt-Korrespondent Deniz Yücel sitze in der Türkei nach beinahe 300 Tagen im Gefängnis nicht mehr in Einzelhaft, schreibt die Welt, online dort seit Sonntagabend, kurz nach halb acht.
"Yücel sei in eine Zelle verlegt worden, die über einen kleinen Innenhof mit zwei anderen Zellen verbunden ist. In einer davon sitzt der Journalist Oguz Usluer, der für die türkische Tageszeitung 'Habertürk' gearbeitet hat. Der Zugang beider Zellen zu dem gemeinsamen Innenhof ist während des Tages geöffnet".
Genau genommen sitzt er also nach wie vor in Einzelhaft, kann aber jetzt Kontakt zu einem Mitgefangenen haben, präzisiert etwa sueddeutsche.de.
Das wäre dann auch schon das Wichtigste.
"Zentralkomitee östlicher Prägung"
Beginnen wir das weitere Programm mit einem kleinen Test für Fortgeschrittene: Wer hat am Sonntag über die der ARD-Intendantenrunde folgende Pressekonferenz Folgendes geschrieben?
"Diese Zusammenkünfte dienen vor allem dem unbedingten Anliegen der Hierarchen, Öffentlichkeit und Transparenz vorzutäuschen, letztlich aber mit möglichst viel Verbalausstoß möglichst wenig zu sagen. Ich habe nie eine Sitzung irgendeines Zentralkomitees östlicher Prägung miterlebt, aber ich kann mich einfach nicht gegen das Gefühl wehren, dass sich da Ähnlichkeiten auftun zu diesen ARD-Verlautbarungsveranstaltungen."
Wie? Nein. Der war es nicht. Wir lösen auf, es war Hans Hoff in seiner DWDL-Kolumne. Er beklagt darin etwa, dass ARD-Programmdirektor Volker Herres nichts zu diversen Dingen gesagt habe, nach denen er gefragt worden sei. Etwa – nur ein Beispiel – zu
"einer vor allem über Twitter bekanntgewordenen Mail (…), in der Jörg Kachelmann den Wunsch geäußert hatte, nach all seinen Freisprüchen zum Jahresende hin noch einmal am Ende der Tagesthemen eine Einzelmoderation machen zu dürfen".
Herres habe nichts zur Sache gesagt, kritisiert Hoff, auch "(k)ein Wort darüber, dass sich die ARD in der Sache Kachelmann nicht mit Ruhm bekleckert hat." Ja, da hätte einem in der Tat erheblich mehr als nichts einfallen können. Offener scheint bekanntlich Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue, der nun dem Journalist ein Interview gegeben hat. In der online stehenden Zusammenfassung – mehr habe ich noch nicht gelesen – heißt es:
"Ein Aspekt von Legitimation ist Transparenz. Auch hier geht der 58-Jährige einen Schritt nach vorn. Hatte sich Raues Vorgänger noch standhaft dagegen gewehrt, sein Intendanten-Gehalt offenzulegen, sagt Stefan Raue im journalist-Interview über die Höhe seines Gehalts: 'Es entspricht dem Gehalt der Intendanten bei den kleineren Landesrundfunkanstalten der ARD.'"
Was ich mich allerdings schon noch frage, ist, wie Hans Hoff auf die Formulierung vom "Zentralkomitee östlicher Prägung" kommt. Michael Hanfeld von der FAZ hat – siehe Altpapier – schon am Donnerstag an derselben ARD-Pressekonferenz "etwas Politbürohaftes" moniert. Hat Angela Merkel den Vergleich in ihren morgendlichen Journalistenbriefings vorgegeben? Oder anders gefragt: Wird es nicht langsam langweilig? Nein? Okay.
Gut, aber Hans Hoffs Text ist eine Kolumne. Kolumnen sind die journalistische Meinungsform dieser Zeit: eine Mischung aus Story und Kommentar, oft geschrieben von einer Person mit Fans. Nicht der Ton muss dem Thema angemessen sein, sondern das Thema im wiedererkennbaren Rahmen der Kolumne verhandelt werden – da muss man halt auch mal ein bisschen usw., nicht wahr?
Über den Stern: "Schwurbel- und Behauptungsjournalismus"
Stefan Niggemeier hat Hans-Ulrich Jörges vom Stern am Freitag bei Twitter einen "Kolumnenextremisten"genannt: "Die Verachtung, mit der ein Kolumnenextremist wie #Jörges im @Sternde den Prozess der Regierungsbildung beschreibt, kennt keine Grenzen", der Artikelauszug, auf den er sich bezieht, war angehängt.
Ich weiß nicht, was "Kolumnenextremist" genau bedeutet, aber sicher nichts Gutes. Es könnte entweder die Bezeichnung für jemanden sein, der in Kolumnen extremistische Positionen vertritt, oder die Bezeichnung für jemanden, der auf extreme Art die Welt dem Stil seiner Kolumne angleicht.
Vermutlich ist Letzteres gemeint. Ein Text von Niggemeier, der am Sonntagabend bei Übermedien unter der Dachzeile "Schwurbeljournalismus" erschien, spräche dafür. Er hat nach eigenem Bekunden "alle Artikel des 'Stern' über die Kanzlerin der letzten vier Jahre durchgelesen" und darin diverse wiederkehrende Elemente und Muster entdeckt:
"Die Politik-Berichterstattung des 'Stern' ist einzigartig. Unter großem Einsatz heißer Luft werden schicksalhafte Dramen und Machtspiele geschildert, immer mit dem Blick in die Zukunft und die Köpfe der Beteiligten. Mit dicker Kinderkreide malen die Autoren Psychogramme. Sie konstruieren Machtduelle und lassen ihre Helden die höchsten Gipfel erklimmen, um ihnen von dort aus die Abgründe zu zeigen, in die sie bald darauf stürzen. Was den Artikeln an Substanz fehlt, verhängen Textgirlanden und Metaphern. Sprachmarotten spielen eine große Rolle."
Die zahlreichen Beispiele im Text stützen all das auch noch. Wobei sich Stefan Niggemeier schon auch auf den Einsatz von Effekten versteht. Etwa an dieser Stelle:
"Es liest sich, als hoffe Jörges: Je größer er Merkel schreibt, desto größer wirkt auch er. Es ist eine besondere Form der Wichtigtuerei: Er macht sie über-wichtig, damit er über-wichtig wirkt. (Das psychologisiere ich natürlich nur in ihn hinein. 'Stern'-Methoden! (…)")".
Um zu zeigen, wie der Stern funktioniere, tut Niggemeier hier, was er dem Stern vorwirft. Das mag ein probates Mittel sein, zumal er die Methode umgehend offenlegt, was die Aussage stärkt. Trotzdem tut er es natürlich, und die Passage dominiert den Gesamteindruck, der von Jörges entsteht. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Hans-Ulrich Jörges über-wichtig schreibt.
Für Angefixte: Enzensbergers "Spiegel"-Kritik
Erheblich stärker denn als Jörges-Interpretation ist der Text als Abgesang auf eine bestimmte Art von erzählendem Magazinjournalismus. Keiner habe sich die Kanzlerin "farbenfroher und abwechslungsreicher ausgedacht als der 'Stern'", schließt Stefan Niggemeier. Ich hatte nach der Lektüre das dringende Bedürfnis, mal wieder Hans Magnus Enzensbergers Spiegel-Kritik von 1957 lesen:
"Story ist Fiktion: dementsprechend muß sich ihr Verfasser als Erzähler aufführen, als allgegenwärtiger Dämon, dem nichts verborgen bleibt und der jederzeit, wie nur je ein Cervantes ins Herz des Don Quichotte, ins Herz seines Helden blicken kann. Während aber Don Quichotte von Cervantes abhängt, ist der Journalist der Wirklichkeit ausgeliefert. Deshalb ist sein Verfahren im Grunde unredlich, seine Omnipräsenz angemaßt. Zwischen der simplen Richtigkeit der Nachricht, die er verschmäht, und der höheren Wahrheit der echten Erzählung, die ihm verschlossen bleibt, muß er sich durchmogeln. Er muß die Fakten interpretieren, anordnen, modeln, arrangieren, aber er darf es nicht zugeben, nicht Farbe bekennen, sich keine Blöße geben. Eine verzweifelte Position. Um sie zu halten, sieht sich der Story-Schreiber gezwungen, zu retuschieren, zwischen den Zeilen zu schreiben."
Die Frage, die man, mit der deutschen Netflix-Serie "Dark" im Hinterkopf, stellen kann, ist vielleicht nicht: Wie ähnlich sind Stern und Spiegel? Sondern: wann?
Die Bimbes-Connection
Zum nächsten Thema bringt uns das insofern, als Enzensberger dies zunächst als Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks veröffentlichte, der im SWR aufging. Nicht nur mit Enzensberger, auch mit dem SWR arbeitet der Spiegel hin und wieder zusammen. Etwa genau jetzt: Die ARD zeigt heute den Film "Bimbes – Die Schwarzen Kassen des Helmut Kohl" von Stephan Lamby und Egmont R. Koch über die sogenannte Parteispendenaffäre. Im schon am Wochenende erschienenen Spiegel heißt der lange Artikel von Markus Dettmer und Sven Röbel "Das Ehrenwort" (€). Zentraler Satz:
"(W)enn man alle verfügbaren Fakten nebeneinanderlegt, bleibt wenig übrig, was für Kohls Version der anonymen Spender spricht".
Der auch in vielen Altpapier-Texten (etwa hier) vorkommenden Diskussion über den Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung fügt das zeitversetzte Erscheinen eine seltene Komponente bei, die der Fernsehkritiker Fritz Wolf auf wolfsiehtfern so anreißt:
"Mal sehen, ob das dem Film hilft oder ob es ihn kannibalisiert."
Dem Film – nicht dem Spiegel-Text – sind die Rezensionen dieses Montags gewidmet. In der Süddeutschen Zeitung bespricht Heribert Prantl, der mit Hans Leyendecker und Michael Stiller 2000 ein dickes Buch über "Helmut Kohl, die Macht und das Geld" geschrieben hat, den Film:
"Die Gelder, die Kohl damals vage und unkonkret als Spendengelder deklariert hat, stammen - das ist die These des Films - aus einem jahrzehntelang mafiös geplanten und vertuschten System von Anderkonten und illegalen Kassen. Gelingt der Nachweis? Gerichtsfest gelingt er nicht. Aber Lamby & Kochs Sicht der Dinge ist schlüssig und liegt nahe".
In der FAZ hebt Hans Hütt stärker auf die Machart des Films ab:
"Stephan Lamby und Egmont R. Koch finden für diese Erzählung eine Struktur, die die Wahrheitsfindung wie eine antike Tragödie auffächert. Einschlägige Dokumente werden nicht vor die Kamera gehalten. Um sie zu verstehen, nutzen die Filmer mit Hanns Zischler einen Erzähler, der manchmal im dunklen Studio, im Hemd mit Hosenträgern am Tisch sitzend, Zahlenreihen vorliest."
Altpapierkorb (Marc Jan Eumann, Rainer Robra, neue Chefin beim "Freitag", 75. Geburtstage)
Lauter Männer heute hier. Hier gleich die nächsten:
+++ Ob Marc Jan Eumann heute zum neuen Direktor der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt gewählt wird, ist der Samstags-FAZ zufolge noch nicht klar. Auch der Medienrechtsanwalt und Blogger Markus Kompa hat sich bekanntlich beworben (siehe auch Altpapier vom Freitag). Zudem stelle sich der Vertreter der AfD quer, schreibt die FAZ. "Für Turbulenzen könnte am Montag bei der vorgesehenen Wahl Eumanns also doch gesorgt sein. Es werde sich kurzfristig am Tag entscheiden, ob gewählt werde, sagte der Vorsitzende der LMK-Versammlung Albrecht Bähr.
+++ Rainer Robra, Staatskanzleichef in Sachsen-Anhalt und ZDF-Fernsehrat, der kürzlich die "Tagesschau" infrage stellte und ein Sparmodell für ARD und ZDF vorschlug (siehe etwa dieses Altpapier), wurde von der Samstags-FAZ interviewt. Er spricht von einem Grundauftrag, dem er die "politische Meinungsbildung auf hohem Niveau" und die Stärkung des "kulturellen Bewusstseins" zurechnet. Eine andere Kernaussage: "Vor ein paar Wochen füllte die ARD den Samstagabend mit zwei Krimis. Beim ZDF liefen parallel auch zwei Krimis. Wir haben insgesamt zu viel Mainstream, zu viele Krimis und zu viele Talkshows. Insgesamt müssen wir zu einer klaren Aufgabenverteilung kommen: Das ZDF bildet die nationalen Diskussionen ab. In den Landesrundfunkanstalten hingegen laufen die regionalen Themen, die dann in der ARD gebündelt werden. Innerhalb der ARD sollte die Formel also lauten: Mehr vom Dritten im Ersten und weniger vom Ersten im Dritten." Michael Hanfeld fasst das von Reinhard Bingener geführte Interview, das derzeit nicht frei online steht, hier zusammen.
+++ Simone Schmollack ist als Chefredakteurin so neu beim Freitag, dass sie noch keine eigene Autorinnenseite bei freitag.de hat, sondern ihr (vermutlich) erster Beitrag in der neuen Position unter freitag.de/autoren/der-freitag steht. Es ist eine Würdigung Alice Schwarzers zum 75. Geburtstag.
+++ Alice Schwarzer wird auch im Tagespiegel gewürdigt (von Beate Wedekind). Ebenda steht auch eine kurze Würdigung von Ulrich Wickert, der am Wochenende ebenfalls 75 wurde.
+++ Markus Feldenkirchen kolumniert im Spiegel (€): "Politikjournalisten erleichtern die vielen Umfragen die Arbeit enorm. Musste man sich früher eigene Gedanken über die Lage einer Partei machen, kann man jetzt täglich bequem nachsehen, wie es gerade um sie steht. Dann sucht man sich noch ein, zwei Gründe, warum das so sein könnte, fertig ist die Analyse."
+++ Sonst im Spiegel: Feldenkirchen, der Martin Schulz im Wahlkampf begleitet und einen viel beachteten Text darüber geschrieben hat, hat außerdem zusammen mit Veit Medick Schulz interviewt. Alexander Osang schreibt über Volksmusik (€): "Niemand redet so schlecht über Kollegen wie Volksmusikanten. Journalisten vielleicht." Und aus der Reihe "Die Medien sind schuld" (€) heute: die Freien Wähler, die in Bayern im Landtag sitzen. Sie hätten da laut Spiegel eine Theorie: "Ein Schweigekomplott der Medien sei für die Wahlniederlage im Bund verantwortlich, mutmaßen einige Funktionäre."
+++ Und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bespricht auf der Medienseite die Böhmermann-Ausstellung (derzeit nicht online; siehe Altpapierkorb von vergangenem Montag).
Frisches Altpapier gibt es am Dienstag.