Das Altpapier am 23. Juli 2021 Digital dabei sein ist alles
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23. Juli 2021, 11:39 Uhr
Heute beginnen die Olympischen Spiele. Traurig, oder? Aber vielleicht ist es doch gar nicht so schlimm. Und: Die Enthüllungen über die Pegasus-Software könnten für investigativ arbeitende Medien sehr viel verändern. Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Olympia ohne Pressefreiheit
In der New York Times beschreibt John Otis, wie die Zeitung normalerweise über die Olympischen Spiele berichtet:
"Times-Journalisten, die an den Olympischen Spielen teilnehmen, machen viel mehr, als nur die Spielpläne zu analysieren und die Sieger der einzelnen Veranstaltungen zu melden. Sie tauchen in das Lokalkolorit der Gastgeberstadt ein, blicken hinter die Kulissen des riesigen Betriebs und erkunden das Leben der Athleten auf intime und organische Weise."
Bei den heute beginnenden Olympischen Spielen in Tokio wird das schwer werden. In den Stadien schauen wegen Corona nicht nur kaum Menschen zu. Auch die Medien arbeiten diesmal unter anderen Bedingungen. Viele werden gar nicht vor Ort sein (Altpapier am Montag). Für das ZDF etwa sind etwa 180 Menschen in Japan, etwa doppelt so viele verfolgen die Wettbewerbe von Deutschland aus, schreibt Manuel Weis in einem Beitrag für DWDL. Und er schreibt:
"Vor einigen Tagen protestierten mehrere amerikanische Zeitungsverlage und machten ihren Unmut über strenge Corona-Regeln vor Ort publik. Sie monierten eine Einschränkung der Pressefreiheit, weil sich Berichterstattende in Tokio voraussichtlich nicht frei bewegen können, sondern nur zwischen Hotel und Sportstätten hin und her pendeln, quasi in ihren Blasen verbleiben."
Für Staaten, in denen Pressefreiheit eher etwas ist, das man aus dem Auslandsurlaub kennt, könnte das genau die Form von Journalismus sein, die man sich für größere Sportereignisse im Idealfall vorstellt. Größte Medienaufmerksamkeit bei minimaler Gefahr von kritischen Berichten über die Widrigkeiten des Lebens in diesen Ländern. Evi Simeoni gibt in einem Kommentar auf der FAZ-Titelseite (€) einen Ausblick darauf, was die Praxis bei den Spielen in Tokio für zukünftige sportliche Großereignisse in Staaten ohne Demokratie bedeuten könnte. Das nächste steht ja schon im kommenden Winter an, dann in Katar. Evi Simeoni schreibt:
"Es ist damit zu rechnen, dass Peking als Gastgeber der Winterspiele 2022 versuchen wird, unabhängig von der Pandemielage zumindest Teile der strikten Verhaltensregeln, denen sich der olympische Tross in Tokio freiwillig unterwirft, aufrechtzuerhalten. So ließen sich nebenbei auch sämtliche Wege ausländischer Journalisten nachvollziehen – ein Nebeneffekt, der andere Diktaturen, welche die Vorteile des 'Whitewashing' durch Sport für sich zu nutzen wissen, begehrlich machen dürfte."
Sehr viel widriger könnten die Umstände zu Beginn der Spiele nicht sein. Viel schlimmer kann es eigentlich nicht kommen. Oder doch?
Na ja, gut, der Kreativdirektor der Eröffnungsfeier könnte zum Beispiel rausgeworfen werden, weil er in der Vergangenheit Witze über den Holocaust gemacht hat. Check. Und der Komponist der Eröffnungsfeier könnte seinen Job verlieren, weil er in einem Interview erzählt hat, wie er in der Schule behinderte Kinder gemobbt hat. Check.
Das ist beides eigentlich nicht so interessant für eine Medienkolumne. Aber es fügt sich ein in ein Gesamtbild, das zu einem Setting führen könnte, das aus journalistischer Perspektive vielleicht doch ganz interessant ist. Normalerweise begann mit den Spielen eine Euphorie, die schnell alle Bedenken überdeckte, und die kritische Berichte zwischendurch, wenn es sie überhaupt gab, fast unpassend erscheinen ließ – als würde während eines rauschenden Festes, bei dem sich alle glücklich in den Armen liegen, jemand zu später Stunde daherkommen und sagen: "Wusstet ihr eigentlich, dass Alkohol schädlich für die Gesundheit ist?"
Es könnte (zumindest theoretisch) sein, dass es diesmal anders kommt, und die widrigen Umstände eine andere Sportberichterstattung erst möglich machen. Wenn die Reportagen über die Stimmung in Tokio fehlen, ist schließlich Platz für andere Themen.
Isabelle Klein hat fürs Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres mit Alina Schwermer gesprochen, die unter anderem als Sportreporterin für die taz arbeitet. Sie kritisiert zum einen, dass Frauen in der Sportberichterstattung deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen als Männer. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) spreche davon, dass es nur in etwa zehn Prozent der Berichte um Frauen geht. Und die Unterschiede lägen nicht nur im Umfang, sondern auch in der Art und Weise der Berichterstattung, in den Bildern, dem Ton. Frauen würden noch immer passiver dargestellt. Sie tragen Sportbekleidung, die aussieht, als wäre sie ausschließlich von alten Männern ausgesucht worden (wobei ich keine zwei Euro drauf wetten würde, dass das nicht auch tatsächlich so war).
Die deutsche Weitspringerin Malaika Mihambo stellte in dieser Woche die berechtigte Frage, warum nicht auch Männer bauchfreie Trikots tragen. Die norwegischen Beach-Volleyballerinnen mussten vor einigen Tagen eine Strafe zahlen, weil sie bei der Europameisterschaft nicht im Bikini antreten wollten.
Es ist also nicht so, dass keine Themen da wären, um die Freiräume zu füllen. Aber seien wir nicht zu optimistisch. Wir kennen ja den Sportjournalismus.
Und falls Sie jetzt trotz allem weiterhin eine kindliche Lust auf ein unschuldiges Sportereignis verspüren, dann lesen Sie diese "holgergertzige" (Stefan Niggemeier) Reportage von Holger Gertz auf der Seite drei der Süddeutschen heute (€). Die dürfte Ihnen den Rest geben. Sie endet mit folgendem Absatz, in dem es um den Sporthistoriker Roland Renson geht, der sich seit Jahren mit der Geschichte der Olympischen Spiele beschäftigt:
"Roland Renson, der so viel über Bier und über Löwen und über Hodenverletzungen bei Olympischen Spielen vor 101 Jahren weiß, sitzt vor seiner wirklich empfehlenswerten Stammkneipe Gambrinus, Spezialität Trappistenbier, und wie viele Gelehrte kann er mit dem heute bei Olympia so flächendeckend strapazierten Pathos nichts anfangen. Was ist denn das Licht am Ende des Tunnels? Manchmal muss man noch was dazuschreiben, einen Halbsatz vielleicht, dann stimmt alles wieder. Also spricht Roland Renson: ‚Weißt du, was wir sagen? Das Licht am Ende des Tunnels ist ein heranrasender Zug.‘"
Und damit zum nächsten unerfreulichen Thema.
Pegasus und die Psyche
Im Dossier der aktuellen Zeit haben Kai Biermann, Astrid Geisler, Holger Stark und Sascha Venohr auf drei großen Zeitungsseiten die Geschichte des israelischen Software-Unternehmens NSO nachgezeichnet, das die Spähsoftware Pegasus entwickelt hat, über die wir hier in den vergangenem Tagen schon einige Male geschrieben haben (zuletzt gestern). Nach dem Lesen bleibt vor allem ein Eindruck zurück: Über die offenen Fragen ließe sich ein noch sehr viel längerer Text schreiben.
Ein wenig erinnert das alles an die Geschichte der sozialen Medien, die von vielen (unter anderem von mir) anfangs als Instrument missverstanden wurden, das der Demokratie vor allem nützlich sein könnte. Wobei, ich nehme das gleich wieder zurück. Im Falle von Pegasus ist es dann doch etwas anders, denn die guten Motive, die die Firma vorgibt, gehabt zu haben, glauben möglicherweise nicht mal die Gründer selbst. Das Zeit-Team zitiert einen von ihnen, Shalev Hulios, mit der Aussage:
"Wir sind keine Spionagefirma, wir sind kein Geheimdienst. Wir sind eine Technologiefirma. Wir haben unmissverständlich klargemacht, dass wir den Einsatz von Pegasus nur erlauben, um Verbrecher und Terroristen aufzuspüren oder ihre Taten zu verhindern. Das ist Pegasus’ einzige Aufgabe."
Und es schreibt:
"Monatelange Recherchen eines internationalen Journalistennetzwerks, dem die ZEIT angehört, lassen von Shalev Hulios Heldensaga nicht viel übrig."
Die erste Idee war angeblich zunächst, eine Software zu schreiben, die Smartphones aus der Ferne warten kann. Und anfangs gelangen mit der entwickelten Software tatsächlich Erfolge in der Bekämpfung von Kriminalität, jedenfalls nach der Darstellung des Gründers. Der erste Kunde war das Land Mexiko. Die Software half den Drogenboss El Chapo festzunehmen. Doch sie entfaltete schnell ihre zersetzende Wirkung. „(…) Pegasus wütet (…) wie eine Kettensäge durch die mexikanische Zivilgesellschaft“, so steht es im Text.
Das Grundproblem für Medien ist dabei das Gleiche wie im Falle von Massenüberwachung. Nur die Software gelangt an Stellen, die Massenüberwachung gar nicht erreicht:
"Das Programm ist kein Werkzeug der Massenüberwachung, anders als bei den Skandalen, die Edward Snowden in der NSA-Affäre enthüllt hat. Aber es greift umso tiefer in die Privatsphäre des Einzelnen ein. Wer es auf dem Smartphone hat, verliert die Kontrolle über sein Gerät. Und damit über einen Teil seines Lebens."
Frederik Obermaier aus dem Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung schätzt die Folgen im gestern schon erwähnten "Zapp"-Beitrag wie folgt ein. Sie sind, so Obermeier, "in meinen Augen gravierend, weil wir jeden Moment damit rechnen müssen, dass sämtliche Kommunikation, die über unser Smartphone läuft, überwacht werden kann, und dass selbst, wenn ein Smartphone nur im Raum liegt, diese Gespräche belauscht werden können."
Dass es hier nicht nur nüchtern um Informationen geht, die öffentlich werden, sondern auch um psychologische Kriegsführung, erklärt der Journalist Szabojcs Panyi vom ungarischen Portal Direkt 36, der selbst überwacht worden ist, ebenfalls im "Zapp"-Beitrag. Er sagt:
"Ich war schockiert, weil es das erste Mal ist, dass wir direkte Beweise für diese vermutlich illegale Überwachung hatten. Und es ist auch das erste Mal, dass ich direkt Beweise dafür habe, dass ich in den letzten vier Jahren nicht nur paranoid war. Ich denke, es ist besser, jetzt die Sicherheit zu haben, dass ich überwacht wurde."
Eine der vielen offenen Fragen, die nicht nur in seinem Fall bleiben, ist: Was war überhaupt der Anlass für die Überwachung? Panyi:
"Es gibt ein seltsames Muster, das wir nach der Analyse meines Telefons gefunden haben. Mindestens zehn mal habe ich offizielle Anfragen an ein Ministerium oder an eine Regierungsbehörde geschickt. Und innerhalb von wenigen Arbeitstagen danach wurde Pegasus auf meinem Telefon aktiviert. Das ist schon seltsam. Das ist der einzige Zusammenhang, den ich herstellen kann, weil ich an verschiedenen Geschichten gearbeitet habe."
Die Frage nach dem Grund für die Überwachung stellt heute auch die Süddeutsche Zeitung auf einer Sonderseite zum Pegasus-Projekt an mehreren Stellen. Warum wurde zum Beispiel der Dalai Lama überwacht (€)? Auch der frühere Chefredakteur der indischen Zeitung The Hindu und Mitgründer des unabhängigen Nachrichtenportals The Wire kennt in seinem eigenen Fall nicht die Gründe. Siddharth Varadarajan sagt im Interview mit David Pfeifer (€):
"In den Monaten, in denen besonders stark zugegriffen wurde, geschahen einige Dinge, die für die Regierung von Interesse sein könnten. Das Wichtigste war wohl der Prozess, den der Sohn von Amit Shah gegen uns anstrengte. (…) Wir hatten in The Wire eine Geschichte über die Geschäfte seines Sohnes gebracht, die viel Lärm produzierte. Er wollte uns verklagen, wir wollten, dass die Klage abgewiesen wird. Das ging bis ans oberste Gericht, und in dieser Zeit geschahen die Angriffe auf mein Smartphone und auf die einiger Kollegen. Wir haben in The Wire auch Treffen von Ministern mit Geschäftsleuten dokumentiert, aber am Ende ist es Spekulation."
Wahrscheinlich gibt es aber auch nicht in jedem Fall konkrete Gründe für die Überwachung – außer vielleicht das Tätigkeitsfeld der überwachten Person. Vor allem investigativ arbeitende Medien sind ja schon deshalb interessante Ziele für Spähangriffe, weil die Chance, bei ihnen geheime Informationen zu finden, relativ groß ist.
Im nächsten Schritt ergeben sich weitere Folgen: Die Existenz der Software verändert zum einen das Wissen über die Möglichkeiten, auf Informationskanäle zuzugreifen, die man eigentlich für sicher gehalten hatte. Und damit geht etwas Wichtiges verloren: das Vertrauen in die Möglichkeit, sich auf digitalem Weg an Medien wenden zu können, um Informationen weiterzugeben, die öffentlich werden sollen. Schon die Kontaktaufnahme wird gefährlicher.
Menschen, die ihre Existenz, möglicherweise ihr Leben in Gefahr bringen, wenn sie sich an Medien wenden, werden sich sehr genau überlegen, auf welche Weise sie das machen. Die Tatsache, dass sie bei ihrer Recherche auf Berichte über die Software stoßen, hebt die Schwelle und verändert damit in der Abwägung der Risiken die Gewichtung.
In anderen Worten: Wenn Menschen sich nicht sicher sind, dass sie Informationen anonym weitergeben können, werden sie womöglich darauf verzichten.
Die Frage ist, ob sich so eine gefühlte Sicherheit wiederherstellen lässt – oder ob sie überhaupt noch vorhanden war. Das Grundvertrauen in die Möglichkeit, digital wirklich sicher zu kommunizieren, ist ja schon etwas länger erschüttert.
Was aber könnte man machen? Ralf Wiegand schreibt in einem Kommentar auf der SZ-Meinungsseite:
"Eine Cyberwaffenexportkontrolle, die den Namen verdient, mit internationalen Gesetzen und Strafen, hat die Staatengemeinschaft bis heute nicht zustande gebracht. Es wird höchste Zeit."
Vermutlich aber wäre es hilfreich, erst mal innerhalb der Europäischen Union dafür zu sorgen, dass Staaten Medien und die Opposition nicht auf diese Weise auskundschaften. Ungarn zum Beispiel steht, wenn auch als einziges EU-Land, laut AFP auf der Liste der Staaten, die Pegasus möglicherweise eingesetzt haben. Angela Merkel hat nun gefordert, den Verkauf der Software zu beschränken, wie die Agentur Reuters berichtet. So eine Forderung klingt immer gut. Einen konkreten Schritt hat nun die Organisation "Reporter ohne Grenzen" unternommen. Sie hat in Paris Klage eingereicht, um zu klären, wer für die Überwachung von Medien verantwortlich ist, so steht es in einer Mitteilung.
Altpapierkorb (WDR räumt Fehler ein, Sachsen TV, Kritik an der Deutschen Welle, Klima beim MDR)
+++ Der WDR hat gestern in einer Mitteilung eingeräumt, dass in der Unwetternacht nicht alles so gelaufen ist, wie es sollte. Der erste Satz der dpa-Meldung dazu lautet: "Der Westdeutsche Rundfunk hat Lücken in seiner Berichterstattung in der Unwetternacht der vergangenen Woche eingeräumt." Und wenn Ihnen das bekannt vorkommt, dann kann das zum Beispiel daran liegen, dass sie das Altpapier am vergangenen Freitag gelesen haben. Darin zitierte Nora Frerichmann die dpa mit den Worten: "Der Westdeutsche Rundfunk hat Lücken in der Berichterstattung über die Starkregen-Katastrophe in Nordrhein-Westfalen eingeräumt." In den folgenden Sätzen geht es dann aber etwas anders weiter. Am vergangenen Freitag nahm der Sender die Selbstkritik gleich auch schon halb wieder zurück, indem er schrieb, man sei selbst von dem Hochwasser betroffen gewesen. Nun heißt laut dpa in der Mitteilung (die online nicht zu finden ist): "Nach sorgfältiger Prüfung hätte dies in der Nacht engmaschiger passieren müssen, zum Beispiel mit einer durchgehenden Sondersendung bei WDR 2."
+++ MDR-Kollege Steffen Grimberg schreibt auf der taz-Medienseite über den privaten Fernsehsender Sachsen TV, der sein Programm teilweise mit von der Landesregierung bezahlten Sendungen bestreitet. Eines der Format hat den schönen Namen "MK Direkt", wobei MK für "Michael Kretschmer" steht. "Direkt" steht vermutlich für: "ohne zwischengeschaltete Medienmenschen, die lästige Fragen stellen". Die Medienaufsicht ermittelt.
+++ Der aus Syrien stammende und von dort vor dem Regime geflohene freie Journalist Yahya Alaous schreibt in einem Gastbeitrag für Übermedien über die Missstände bei der Deutschen Welle in der arabischsprachigen Welt.
+++ Aus der "Klima vor acht"-Sendung in der ARD ist zwar erst mal nichts geworden. Aber unser Altpapier-Host MDR hat nun angekündigt, die Klimaberichterstattung auszubauen, wie Daniel Vogelsberg und Frank Rugullis hier erklären. Ab sofort gibt’s ein wöchentliches Klima-Update. Und noch ein weitere Hinweis auf einen MDR-Beitrag, der allerdings verhindern dürfte, dass Sie vom ersten Klima-Update überhaupt etwas mitbekommen: Machen Sie doch mal eine Pause von der digitalen Welt.
Und vor allem: Haben Sie ein schönes Wochenende.
Neues Altpapier gibt es am Montag.
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