Teasergrafik Altpapier vom 22. Juli 2021: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 22. Juli 2021 Digitalisierungs-Entwicklungsland

22. Juli 2021, 11:55 Uhr

Diesen Titel darf Deutschland immer noch tragen, zeigt die aktuelle Diskussion über Katastrophen-Warnungen via Mobilfunk nach der Hochwasserkatastrophe. Warum es nicht um SMS geht und was das für den Datenschutz bedeutet, müssen Politik und Medien erst mal auseinander klamüsern. Außerdem will der WDR seine Berichterstattung zum Hochwasser prüfen und sprach mit Kritiker Lückerath über dessen Vorwürfe. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Datenschutz ist keine Ausrede

Lässt man die Warnungen in der Hochwasserkatastrophe der vergangenen Woche Revue passieren, könnte man zynisch formuliert den Eindruck gewinnen, Deutschland sei noch auf dem technologischen Stand des Frühmittelalters. Die Frage, warum die Menschen in den betroffenen Gebieten nicht in angemessene Alarmbereitschaft versetzt werden konnten, wird seit Tagen debattiert.

Aus digitalpolitischer Perspektive gibt es dazu mittlerweile einige Absichtserklärungen. Nachdem unter Politikern und auch in der medialen Berichterstattung zunächst viel von Katastrophen-Warnmeldungen per SMS die Rede war kristallisiert sich nun heraus, dass damit eigentlich etwas anderes gemeint ist. Denn es geht um die Nutzung von Cell Broadcast, dessen Ergebnis ähnlich wirkt, aber an entscheidenden Stellen anders funktioniert.

Für Heise hat Nico Ernst mit dem Mitbegründer der Arbeitsgruppe Kritische Infrastrukturen (AG KRITIS), Manuel Atug, über die in Deutschland bisher vernachlässigte Technologie gesprochen. Der Informatiker hatte schon nach dem vermurksten Warntag im vergangenen Jahr grundsätzliche Probleme in den Warn- und Alarmketten analysiert. Im Heise-Interview erklärt er nun, wie die durch Cell Broadcast versendeten Warnungen sich von SMS unterscheiden und warum sie auch bei überlasteten Netzen funktionieren. Das hört sich deutlich effektiver an als vereinzeltes Glockengeläut. Aber wie schon angedeutet, die Technologie

"gibt es in Deutschland immer noch nicht. Dabei gibt es eine EU-Richtline, die unter anderem Cell Broadcast vorsieht, und die bis Mitte 2022 umgesetzt werden muss. Das BBK soll da koordinieren, ist aber nicht verantwortlich dafür. Am Wochenende nach den Fluten sagte das BBK, man stimme mit den Providern ab ob, wann und wie das eingeführt werden kann",

erklärt Atug. Bei Golem hat Achim Sawall zusammengefasst, wie die Telekom dazu steht. Und auch in der wahlkrampfig angespannten Riege der politischen Entscheider:innen scheint nach der Katastrophe der Wille da zu sein, Cell Broadcasting zu nutzen. Hoppla, kürzlich sah das ja alles noch anders aus. In seiner Spiegel-Kolumne erinnert Sascha Lobo mit Blick auf die oben schon erwähnte EU-Richtlinie:

"Die EU hatte ein verbindliches Warnsystem per Cell Broadcast bis 2022 einführen wollen. Deutschland aber drängte auf eine Ausnahme und bekam sie. EU-Staaten können festlegen, dass ihre eigenen Warnsysteme so gut seien wie Cell Broadcasts. Konkret erklärte die Bundesregierung offenbar ernsthaft, mit Apps, Durchsagen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Sirenen ähnlich effektiv zu sein wie Cell Broadcasts."

In dem Text geht er außerdem auf drei mögliche Gründe für die bisherige Verweigerungshaltung ("In Deutschland liest sich der Stand zum Thema Cell Broadcast wie eine bürokratische Verhöhnung des 21. Jahrhunderts.") in Deutschland ein.

Die Ausrede von datenschutzrechtlichen Bedenken zählt an dieser Stelle nicht. Denn obwohl die Warnungen über Cell Broadcast bei den Empfänger:innen wirken wie eine SMS, werden dafür keine Handynummern benötigt. Dazu die "Tagesschau":

"Da die Warn-Nachrichten pauschal an alle in einer Funkzelle eingewählten Geräte geschickt werden, müssten diese dafür 'weder adressiert oder anhand ihrer Telefonnummer identifiziert werden', heißt es von der Telekom. Datenschutzbedenken könnten somit ausgeräumt werden. Auch aus Sicht von IT-Sicherheitsexperte Atug fallen keine personenbezogenen Daten an: 'Es ist die datenärmste und damit empfehlenswerteste Umsetzung einer Warn-Meldung.'"

WDR-Kritik im WDR

Aber schauen wir auch nochmal kurz auf die Kritik an WDR und SWR zu Beginn der Hochwasserkatastrophe. Dazu haben Sie ja seit Freitag hier im Altpapier einige Facetten serviert bekommen. Kurz zur Erinnerung: es ging vor allem um zurückhaltende, teils widersprüchliche Warnungen und Programmentscheidungen in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli.

Nun haben auch die beiden öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten angekündigt, ihre Berichterstattung nochmal kritisch zu prüfen (was bei solchen Ausnahmesituationen ja auch unabhängig von Kritik von außen wichtig ist). Die Süddeutsche und Madsacks Redaktionsnetzwerk Deutschland berichten darüber basierend auf einer epd-Meldung:

"Zur Aufarbeitung der Berichterstattung im WDR würden mehr als 80 Stunden Live-Material gesichtet und sorgfältig jeder Schritt in der Meldekette geprüft, teilte der Sender in Köln mit. Selbstkritisch räumt man ein, dass in der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche eine Sondersendung des Radiosenders WDR2 angemessen gewesen wäre."

Und auch sonst reagierte der WDR auf die Kritik recht selbstkritisch, baute seine Berichterstattung am 15. Juli sehr deutlich mit Sondersendungen und eigenem Nachtprogramm aus (Altpapier Dienstag) und lud vergangenes Wochenende auch Thomas Lückerath von dwdl.de ein, der die WDR-Berichterstattung und Planung noch in der Nacht massiv kritisiert hatte. Das ist deutlich zupackender und reflektierter, als es in der Vergangenheit etwa beim Rumgeeiere in der "Umweltsau"-Debatte oder bei der Rassismus-Kritik an "Die letzte Instanz" zu beobachten war (auch wenn diese Fälle natürlich nicht 1:1 miteinander zu vergleichen sind).

Im WDR5-Medienmagazin "Töne, Texte, Bilder" ging Lückerath jedenfalls u.a. auf die unterschiedliche Ausgangslage bei WDR und SWR ein. Auch der für Rheinland-Pfalz zuständige SWR hätte in der Nacht umfangreicher berichten können:

"Wenn wir aber dahin gehen zu der Erwartbarkeit der Nachrichtensituation, dann werfe ich dem WDR ein größeres Versagen vor, weil man eben den ganzen Tag über ja schon fleißig und umfangreich in Sondersendungen über das Unwetter in Nordrhein-Westfalen berichtet hatte. Das heißt, man war schon betroffen. Rheinland-Pfalz kam dann ja quasi erst in der Nacht nach. Auch da hätte man mehr machen können. Aber der WDR ist eben das Land wo ich mich frage: Die Wassermassen waren da, sie sind runtergekommen. Und dann zu glauben, mit diesen Wassermassen passiert nichts bis zum nächsten Morgen, die bleiben schön da wo sie sind, das ist dann für mich eben dieser Punkt an dem ich sage, das grenzt an unterlassene Hilfeleistung."

Nach den Überflutungen in Hagen am vorangegangenen Tag hätten aus Lückeraths Sicht Reporter:innen für die Nacht in Bereitschaft versetzt werden müssen. Und ja, liebe Gleichschaltungs-Schreihälse, um diese Kritik nochmal zu bekräftigen und zu erläutern wurde er tatsächlich vom WDR selbst eingeladen.

Das erwähnt die Bild in ihrem Artikel darüber, wie der WDR sich trotz der Kritik der vergangenen Tage selbst feiere, nicht...


Altpapierkorb (Pegasus, Drohungen gegen Journalisten Acarer, Sportberichterstattung über Athletinnen, Frequenzen für Rund- oder Mobilfunk)

+++ Die Kolleginnen und Kollegen von "Zapp" haben mit verschiedenen Journalist:innen europaweit über die Pegasus-Überwachungsaffäre gesprochen. Zu Wort kommen Betroffene, aber auch Vertreter des Rechercheverbunds erzählen von ihrer Arbeit. An dieser Stelle möchte ich übrigens auch den Instagram-Account der "Zapp"-Kolleginnen und Kollegen empfehlen. In den Stories dort gibt es dort fast tägliche Updates zu medienpolitischen und -journalistischen Themen von Kathrin Drehkopf und Daniel Bröckerhoff.

+++ Der türkische Journalist Erk Acarer wurde in Berlin offenbar erneut bedroht, berichten Spiegel und Deutschlandfunk. Auch er selbst twitterte darüber.

+++ Das "Runterbrechen" im Journalismus seine eine "Ideologie der Überheblichkeit", schreibt Anne Haeming bei der taz und plädiert dafür, Nutzer:innen mehr zuzutrauen und zuzumuten.  

+++ Bei Übermedien untersucht Stefanie Menschner Sexismus und Asymmetrien in der Sportberichterstattung über Frauen und Männer.

+++ Ob die ultrahohen Frequenzen (UHF) künftig eher an den Rundfunk und die Kultur oder an die Mobilfunkanbieter gehen, überlegt Torsten J. Gerpott auf der FAZ-Medienseite (€, hier bei Blendle)

+++ Italiens öffentlich-rechtlicher Rundfunk Rai hat eine neue Chefin. Details hat die FAZ.

+++ Wann, wie und warum Clubhouse seine auditiven Türen nun für alle öffnet, steht bei t3n.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Freitag.

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