Teasergrafik Altpapier vom 18. März 2021: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 18. März 2021 Sprung in den Empörungsstrudel

18. März 2021, 12:42 Uhr

Die Diskussion über das Thromboserisiko bei Covid-Impfungen zeigt, wie wichtig ein faktenbasierter Umgang mit vermeintlichen Dichotomien ist. Denn Corona-Leugner und Impfgegnerinnen nutzen gezielt die Grauzone zwischen wichtiger Debatte über Risiken und gezielter Verunsicherung, um ihre Ideologien zu verbreiten. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Verunsicherung durch Empörung

Sieh an, da haben wir Nicht-Wissenschaftsjournalist:innen diese Woche wieder einiges gelernt. Oder wussten Sie vergangene Woche schon, was eine Sinusvenenthrombose ist und wie häufig solche Blutgerinnsel in etwa auftreten?

Im Verlauf der Woche konnte man Redaktionen quasi live bei diesem Lernprozess zuschauen. Nachdem in Deutschland die Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin am Montag ausgesetzt hatte, weil das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Erkenntnisse über sieben Fällen (drei davon tödlich) hatte, bei denen ein zeitlicher Zusammenhang mit Hirnthrombosen und der Impfung festgestellt wurde, stand vor allem online schnell der Vergleich mit dem Thromboserisiko der Pille im Raum.

Die Empörung, dass Menschen mit Uterus bei der hormonellen Verhütung einem deutlich höheren Thromboserisiko ausgesetzt seien, als es die Impfung mit Astrazeneca mit sich bringe, letztere aber nun gestoppt wird, während die Verhütungspräparate munter weiterverkauft und verordnet werden, war im Netz groß.

Unter anderem das Satiremagazin "quer" vom BR griff den Vergleich in einem Insta-Shareable auf, das zumindest in meiner Bubble ziemlich viral ging. Dort wurde die Zahl der Thrombosen bei Frauen durch die Einnahme der Pille (laut der "quer"-Kachel: 1.100 von 1.000.000) der Zahl der Hirnthrombosen nach einer Astrazeneca-Impfung in Europa (6 von 1.000.000, laut PEI sind es 6 Sinusvenenthrombosen und ein weiterer Fall von Hirnthrombose) gegenüber gestellt.

Der direkte Vergleich der Zahlen ist ohne genauere Einordnung allerdings irreführend, wie sich schnell zeigte. Denn

  1. ist die Art der Thrombose bei der Pille und im Zusammenhang mit Astrazeneca eine andere und laut Expert:innen ist auch die Gefahr durch die unterschiedlichen Gerinnsel nicht 1:1 zu vergleichen.
  2. ist der Kausalzusammenhang bei Pille und Thrombosen nach durch jahrelange Beobachtungen und Analysen wissenschaftlich erwiesen, während der Zusammenhang bei Astrazeneca bisher nur zeitlich erkennbar ist, aber ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang aktuell nicht feststeht. Alles weitere wird noch genauer analysiert.
  3. ist nicht nur der Blick auf die absoluten Zahlen, sondern auch der Vergleich mit den statistischen Erwartbarkeiten wichtig für die Einordnung. Denn laut PEI wäre statistisch zu erwarten gewesen, dass es nur ein Fall von Hirnvenenthrombosen in den 14 Tagen nach der Impfung auftritt. Bekannt wurden aber sieben.

Das alles soll das Thromboserisiko der Pille (das je nach Zusammensetzung ja auch nochmal variiert) nicht verharmlosen, sondern lediglich die Unterschiede zur Situation bei den Impfungen herausstellen. Das Aussetzen der Astrazeneca-Impfungen wird dabei dennoch weiterhin kritisiert, weil ja auch eine Covid-19-Erkrankung ein Thromboserisiko mit sich bringen kann.

Ich muss außerdem dazu klar sagen: Ich bin selbst keine Wissenschaftsjournalistin, für mehr Details und mehr Fachkompetenz lohnt sich zum Beispiel ein Blick zu den Kolleg:innen vom Wissenschaftsmagazin "Quarks"(WDR) und auch drüben bei MDR Wissen sind einige Expertenstimmen dazu zusammengestellt worden.

Am Dienstag stellte "quer" schließlich auf seinem Instagram-Kanal folgende Aktualisierung in der Caption der Infotafel dazu:

"Zwischenzeitlich ist bekannt geworden, dass es sich bei den thromboembolischen Ereignissen um eine spezielle Form von sehr seltenen Hirnvenenthrombosen handelt. Diese Information gab es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Posts noch nicht."

Die Tafel mit dem irreführenden Vergleich ist allerdings weiter unverändert online und kann ohne direkt sichtbare Einordnung in den Stories geteilt werden.

Gestern und vorgestern griffen dann Fachredaktionen u.a. vom bereits erwähnten "Quarks" und diverse Redaktionen von Spiegel über FAZ, Tagesspiegel und Zeit das Thema mit umfangreichen Erklärungen und Einordnungen auf. Auch der BR selbst lieferte online bei BR24 eine Einordnung.

Die Aufregung rund um diesen schrägen Vergleich illustriert erneut, wie verführerisch der Sprung in den Social-Media-Empörungsstrudel für den Einzelnen, aber auch für Redaktionen sein kann – und wie problematisch das in einer derart aufgeheizten Pandemie-Stimmung ist. Ob all die Social-Media-Nutzer:innen, bei denen solche Vergleiche aufgelaufen sind, auch von den oben erwähnten wissenschaftsjournalistischen Angeboten erreicht werden, dürfte fraglich sein.

Außerdem kann man in dem Fall auch eine kleine Erinnerung an einen faktenbasierten Umgang mit vermeintlichen Dichotomien sehen. Dass es bei Pandemie-Entscheidungen nicht nur ein Für oder Wider gibt, nicht nur ein Impfen oder Impfstoff entsorgen, sondern auch alle möglichen Abstufungen dazwischen, gerät bei all der aktuellen Frustration über steigende Infektionszahlen, ausfallende Impftermine und die angespannte Situation in den Schulen meinem Eindruck nach regelmäßig in Vergessenheit. Da fällt das Warten auf gesicherte und umfassende Informationen, auf deren Basis differenzierte Schlussfolgerungen möglich sind, umso schwerer, ist aber umso wichtiger...

Gezielte Verunsicherung

Verunsicherung entsteht natürlich nicht nur durch vorschnelle Empörung. Mit Verunsicherung lässt sich auch mithilfe von gezielten Falschinformationen ein ertragreiches Geschäftsmodell stricken, wie wir nicht erst seit der Pandemie wissen. Jana Ballweber nimmt sich nun bei netzpolitik.org eine interne Studie von Facebook vor (siehe auch Washington Post), in der eine eigentlich schon bekannte Tatsache nochmal bestätigt wird: Es ist eine sehr kleine Zahl von Accounts, die in den USA gezielt verunsichernde oder falsche Informationen sehr weit verbreitet.

Die genauere Dimension der Untersuchung und eine kritische Einordnung der fehlenden Transparenz von Facebook bei einigen Kriterien der Studie hat Ballweber in ihrem Text zusammengetragen. Mit Blick auf Deutschland lassen sich die Ergebnisse natürlich nicht 1:1 übertragen, aber auch hier stößt man auf der Plattform schnell auch auf deutsche Seiten, die Falschinformationen zu Impfungen verbreiten oder gezielt verunsichern.

"Die Ergebnisse der Facebook-Studie fördern ein Problem zu Tage, das bei Diskussionen über die Moderation von Inhalten auf sozialen Netzwerken immer wieder besprochen wird: Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Schutz der Nutzer:innen vor Falschinformationen und dem Einschränken der Meinungsfreiheit. Beim Thema Impfungen wird das besonders deutlich. Oftmals ist es schwer zu unterscheiden, wo Nutzer:innen Bedenken oder Fragen äußern und wo sie gezielt andere Menschen verunsichern wollen. Denn dafür braucht es oftmals gar keine Falschinformationen. Es reicht manchmal aus, einzelne richtige Aussagen aus dem Gesamtzusammenhang zu reißen, um sie bedrohlich wirken zu lassen."

Das Problem, mit dem Journalist:innen und Gesellschaft gleichermaßen umgehen müssen:

"Impfgegner:innen nutzen der Facebook-Studie zufolge diese Grauzone zwischen der notwendigen gesellschaftlichen Debatte über Risiken einerseits und gezielter Verunsicherung andererseits aus, um ihre Ideologie in ihrem direkten Umfeld, aber auch darüber hinaus zu verbreiten."

Zwei Lesetipps noch zum Thema: Auf der FAZ-Medienseite (Blendle, 75 Cent) schreibt US-Korrespondentin Nina Rehfeld über Entstehung, Entwicklung und Ausrichtung der Epoch Times, die auch in Deutschland mit Headlines wie "Maskenpflicht verstößt gegen Folterverbot" und Begriffen wie "Impfpropaganda" herumwirft.

Und in der Zeit (€) haben Philipp Daum und Marius Buhl eine lesenswerte Reportage über Entstehung und Anziehungspunkte der sogenannten Querdenker-Bewegung veröffentlicht, die die Motivation ihrer Mitglieder und Gegner zwischen persönlichen Schicksalen, Weltanschauungen und Sinnsuche aufdröselt.


Altpapierkorb (Knuth vs. Robra, Reformvorschläge für die Öffis, Handbuch Diversity, Bari Weiss, Daphne Caruana Galizia)

+++ In einem Zeit-Interview diskutieren Sachsen-Anhalts Medienminister Rainer Robra (CDU) und NDR-Intendant Joachim Knuth über den Streit um den Rundfunkbeitrag. Knuth kritisiert dort u.a. "Eingriffe, die unsere Autonomie betreffen. Wir kommen in Teufels Küche, sobald der Eindruck entsteht: Nur wenn wir gefügig sind gegenüber Politikern, bekommen wir unser Geld." Und Robra räumt z.B. ein: "Ich will zugeben: Bei der Neugestaltung des Auftrags sind wir als Bundesländer in den vergangenen Jahren nicht besonders erfolgreich gewesen."

+++ Apropos: Von der gestrigen Sitzung Rundfunkkommission der Länder berichtet das Handelsblatt (via dpa), dass die Bundesländer bis Juni konkrete Reformschritte für die Öffentlicht-Rechtlichen erarbeiten wollen. Konzept und Zeitplan sollen bis Oktober bei den Ministerpräsident:innen liegen.

+++ Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen fordern in ihrem gestern veröffentlichten Diversity Handbuch von Medienhäusern und Produktionsfirmen eine Selbstverpflichtung, 30 Prozent Medienmenschen mit Migrationshintergrund zu beschäftigen. "Bei Diversity geht es nicht um Nettigkeit oder nur um Teilhabechancen für alle, mehr Vielfalt bringt neue Zielgruppen und vor allem einen besseren, erfolgreicheren Journalismus", wird Geschäftsführerin Konstantina Vassiliou-Enz in einem Artikel beim Neuen Deutschland (via epd) zitiert. Mehr Infos gibt‘s z.B. beim Tagesspiegel.

+++ Auf der Medienseite der Süddeutschen gibt es heute einen Schwerpunkt zur Diskussion um das Meinungsressort bei der News York Times. Teil davon ist ein Interview (Blendle) mit Bari Weiss, der Journalistin, die damals dramatisch von einem "civil war" zwischen Jung und Alt getwittert hatte (siehe Altpapier).

+++ Der Standard berichtet über neue Erkenntnisse aus dem Verfahren über die Ermordung der Maltesischen Investigativ-Journalistin Daphne Caruana Galizia im Jahr 2017. Einer von drei Beschuldigten wurde im Februar zu 15 Jahren Haft verurteilt.

+++ In einem lesenswerten Twitter-Thread gibt Jason Kint, CEO der Beratungsfirma Digital Content Next, einen Überblick, wie Facebook in den vergangenen drei Jahren versuchte, sich aus dem Cambridge-Analytica-Skandal heraus zu wurschteln.

+++ Die Kolleginnen beim NDR-Medienmagazin "Zapp" haben sich die Boulevard-Berichterstattung über Kasia Lenhardt nochmal im Detail angeschaut und der Influencerin Cathy Hummels, der Medienkritikerin Samira El Ouassil und dem Medienrechts-Anwalt Matthias Prinz über die Verantwortung der Medien gesprochen. Der Film steht bei Youtube online.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Freitag.

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