Teasergrafik Altpapier vom 9. März 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 9. März 2021 Beschwerderisiko

09. März 2021, 12:26 Uhr

Wer interne Ermittlungen gegen Vorgesetzte anstößt, muss möglicherweise viel aushalten. Das erleben gerade mutmaßliche Machtmissbrauchsopfer von Julian Reichelt. Außerdem auf der Agenda: Der Organisator des Ibiza-Videos hat Angst. Der bekannteste Investigativjournalist des Stern haut in den Sack. Ein Altpapier von René Martens.

"MeToo-Vergehen im weitesten Sinne"

Bei der Ibiza-Affäre dauerte es rund einen Monat, ehe die Öffentlichkeit verstanden hatte, was Jan Böhmermann meinte, als er bei einer Preisverleihung behauptete, er hänge "gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla" herum. Zwischen der am Freitag im "ZDF Magazin Royale" fallen gelassenen Bemerkung, Bild-Chefredakteur Julian Reichelt müsse möglicherweise gerade "viele Fragen beantworten in einem umfangreichen Compliance-Verfahren", und einem Spiegel-Artikel, der zumindest grob darüber informierte, was es mit diesem Compliance-Verfahren auf sich hat, lag aber gerade mal ein Wochenende.

Der Text ist nicht einmal 1.600 Zeichen lang, und davon bezieht sich auch noch knapp ein Drittel auf Vorgänge aus 2017 - aber dass es trotz der Kürze eine große Geschichte ist, erkennt man auch daran, dass immerhin drei Autoren und eine Autorin am Start waren. Welcher Art sind denn nun die Fragen, die Reichelt beantworten muss? Der Spiegel schreibt:

"Rund ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen hatten dem Medienhaus Vorfälle aus den vergangenen Jahren angezeigt … Unter anderem geht es bei der Untersuchung um Machtmissbrauch und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. In einzelnen Fällen soll sich Reichelt möglichen Vorwürfen von Nötigung und Mobbing stellen müssen."

Die Berliner Zeitung (€) spricht von "bis zu sieben Mitarbeiterinnen" und liefert folgende Einordnung: "Im weitesten Sinne soll es sich um MeToo-Vergehen handeln." Ich finde ja, dass der Begriff "MeToo-Vergehen" so konkret ist, dass die Erläuterung "im weitesten Sinne" eher nicht zur Klarheit beiträgt.

Von einem "Kreis von mehr als zehn weiblichen wie männlichen Personen, die Reichelt bezichtigen", weiß wiederum meedia.de.

Dort findet sich auch die mitfühlende Bemerkung, "für Reichelt" seien "die internen Ermittlungen äußert unangenehm". Worauf Stefan Niggemeier bei Twitter entgegnete: "Wie angenehm mag es im Vergleich für die betroffenen Frauen gewesen sein, unter ihm zu arbeiten?

Wobei man natürlich davon ausgehen muss, dass es jetzt, nach Bekanntwerden der Beschwerden, für die Betroffenen noch viel unangenehmer ist, für Reichelt zu arbeiten. Das ist ja generell die Crux: Wer sich an eine Compliance-Abteilung oder eine vergleichbare Stelle in einem Medienhaus wendet, geht ein Risiko ein. Wenn die Beschuldigten oder Zeugen mit den Vorwürfen konfrontiert werden, können sie aufgrund des Inhalts der Fragen Rückschlüsse darauf ziehen, von wem die Vorwürfe stammen. Sollte die Beschwerde folgenlos bleiben, sähen sich die Betroffenen sogar damit konfrontiert, dass ihre Situation noch schlechter wäre als vor den von ihnen angestoßenen Ermittlungen.

Wie groß das beschriebene Risiko ist, zeigt im konkreten Fall das von Reichelts Bodentruppen offenbar betriebene interne "Victim shaming", das ein Mitglied des Betriebsrats bereits kritisiert haben soll. Es gibt darüber hinaus ein öffentliches "Victim blaming" im lyrischen Gewand, bei dem auch eine notorische Torfnase wie Peter Altmaier meint, mitmischen zu müssen (worauf Lorenz Meyer hinweist).

Bereits am Freitag hatte Stefan Niggemeier die zitierte Andeutung Böhmermanns mit einem Tweet angedickt, den er nach Erscheinen des Spiegel-Beitrags noch einmal in die Umlaufbahn schickte:

"Die entscheidende Frage ist nicht, ob Julian Reichelt @Bild-Chef bleiben wird. Die entscheidende Frage ist, ob Mathias Döpfner @AxelSpringer-Chef bleiben wird."

Ob die Genannten bleiben, was sie sind - das sind natürlich in vieler Hinsicht relevante Fragen. Aber ob sich wirklich etwas ändert, wenn ein oder zwei Supernasen ausgetauscht werden, und der Verlag dann plötzlich auf Aufklärung und Humanismus setzt, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Und dass Leute, die mal Chefredakteur bei der Bild-Zeitung waren, auch nach ihrer Amtszeit eine Gefahr für die Allgemeinheit sein können, wissen wir ja seit der Sache mit Kai Diekmanns Storymachine und der Heinsberg-Studie.

Freshfields und Springer

Im Spiegel-Text stehen unter anderem noch folgende Sätze.

"Das genaue Ausmaß der Compliance-Untersuchung ist derzeit noch unklar. Der Medienkonzern hat die Angelegenheit zu einer sorgfältigen Prüfung der Kanzlei Freshfields übergeben."

Die Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ist seit Jahren ein Wegbegleiter Springers. Freshfields half "bei der fusionskontrollrechtlichen Prüfung des Erwerbs eines Mehrheitsanteils am US-amerikanischen Online-Nachrichtendienst Business Insider", Freshfields beriet Springer beim Verkauf eines Teils seines Verlagsgebäudes in Hamburg, und Freshfields beriet das Unternehmen auch beim Rückzug von der Börse.

Ob eine Kanzlei, die so gute Beziehungen hat zu einem Unternehmen, ideal ist für Ermittlungen, die für dieses Unternehmen äußerst heikel werden können - die Frage kann man stellen. Um es zuzuspitzen: Die Kanzlei dürfte ein Interesse daran haben, dass Springer Kunde bleibt.

Wenn sich die Vorwürfe gegen Reichelt bewahrheiteten, beträfe das auch das Haus als Ganzes, ob nun in der von Niggemeier vermuteten Form oder nicht. Denn: Reichelt ist der prominenteste Ideologieproduzent des Konzerns (um hier mal den Begriff Journalist zu umkurven), und Ideologieproduktion spielt dort ja immer noch eine große Rolle, trotz Idealo, Immowelt und Konsorten.

Freshfields und der DFB

Einem Publikum jenseits der an (wirtschafts)juristischen News Interessierten ist der Name Freshfields vielleicht schon einmal begegnet, weil der DFB die Kanzlei 2015 beauftragt hat, die Verwicklung des Verbands in dubiose Millionen-Zahlungen im Zusammenhang mit der Vergabe der WM 2006 aufzuklären. Die SZ schrieb 2017:

"Der Freshfields-Report, erstellt für einen hohen einstelligen Millionenbetrag, bot kaum etwas Griffiges. Stattdessen häuften sich in den Monaten danach die Merkwürdigkeiten. Mehr und mehr Fragen zu Kernthemen tauchten auf, die der Report in Fußnoten verbuddelt oder ganz ausgeblendet hatte (…) Der Report trug viel zur Beruhigung des Publikums bei, aber kaum zur Aufklärung."

Und zwei Jahre später legte die Zeitung nach:

"Der DFB trug das Freshfields-Mandat von Beginn an wie eine Monstranz vor sich her: Seht her, wir tun alles Erdenkliche in Sachen Transparenz - wir lassen uns sogar völlig unabhängig durchleuchten! (…) Das war im März 2016. Danach wurde allerdings bald deutlich, dass die Arbeit von Freshfields wenig Aufklärung bot - stattdessen bemerkenswerte Auslassungen und, so zumindest der Eindruck, auch Täuschungsmanöver. Nun zeigen SZ-Recherchen, dass bei dieser Aufklärungs-Liaison von Beginn an ein gravierender Interessenkonflikt bestand."

Ibiza-Video-Organisator rechnet mit "dem Schlimmsten"

Angesichts des heutigen Einstiegs mit dem Ibiza-Skandal passt es gut, dass sich ein Bogen schlagen lässt zu einem aktuellen Interview mit jenem Mann, der diese Sache damals ins Rollen brachte. Für die taz hat Konrad Litschko Julian H. interviewt, der derzeit in Berlin in Untersuchungshaft sitzt und der kürzlich Jan Böhmermann wegen der hier heute oben zitierten Äußerung kritisiert hat (Altpapier).

Wegen nicht im Zusammenhang mit dem Ibiza-Video stehenden Vorwürfen, die "völlig konstruiert sind", wie der Betroffene sagt, droht Julian H. nun die baldige Auslieferung nach Österreich - wo er "nicht mit einem fairen Verfahren" bzw. "dem Schlimmsten" rechnet. Zum Video selbst sagt er:

"Ich habe auch lange mit mir gerungen. Ich war nicht heiß darauf, mit dem Video rauszugehen. Ich war auch nicht blauäugig. Wer rennt schon freiwillig in seinen Untergang? Ich hatte vieles, was später passiert ist, befürchtet. Mir wäre es lieber gewesen, jemand mit öffentlichem Standing hätte das Video veröffentlicht. Aber es fand sich niemand und es gab irgendwann kein Zurück mehr. Strache versuchte als Vizekanzler umzusetzen, was er angekündigt hat in Ibiza: Mediengleichschaltung, Bevorzugung von ihn politisch fördernden Unternehmern.

Dass die Medien in dem Land, in das er ausgeliefert werden soll, "immer noch gegängelt werden" - das erwähnt H. dann auch noch.


Altpapierkorb (Hans-Martin Tillack, Handelsblatt, Michael Hopp, Studie zur "Prekarisierung im Journalismus")

+++ "Geht der gute alte Stern unter?" lautete an dieser Stelle neulich eine Frage, die im Zusammenhang mit sogenannten Umstrukturierungen beim Magazin steht, und da es den Machthabern nun gelungen ist, den Investigativ-Reporter Hans-Martin Tillack wegzuekeln (siehe kress.de und einen Thread unten einer Mitteilung Tillacks bei Twitter), kann man sie heute wieder stellen.

+++ Wohl nicht unter geht die gedruckte Ausgabe des bald 75 Jahre alt werdenden Handelsblatts, auch wenn Caspar Busse in ein, zwei Fragen seines SZ-Interviews (€) mit Geschäftsführerin Andrea Wasmuth und Chefredakteur Sebastian Matthes diese Möglichkeit in den Raum stellt. Busse: "Sie haben derzeit rund 87 000 Abonnenten, davon erhalten nur noch etwas mehr als 25 000 eine gedruckte Ausgabe. Lohnt sich das überhaupt noch? Oder gehen Sie auf ein Digital-Modell mit einer gedruckten Wochenendausgabe am Freitag?" Wasmuth dazu: "Wir setzen auf Print, andere Pläne gibt es in keiner Weise. Print ist sehr profitabel und leistet nach wie vor einen hohen Ergebnisbeitrag."

+++ Das Magazin Nitro, nicht verwandt oder verschwägert mit dem TV-Sender RTL Nitro, hat "Mann auf der Couch" besprochen, den "schonungslosen Seelenstriptease" bzw. die "Lebensbeichte" des bei rund einem halben Dutzend Zeitschriften (Wiener, TV Movie u.a.) als Chefredakteur tätig gewesenen Michael Hopp (siehe Altpapier von vergangenem Mittwoch)

+++ Die Organisation Freischreiber fasst die Ergebnisse einer unter dem Titel "Prekarisierung im Journalismus" erschienenen Untersuchung des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU München zusammen: "Ein Großteil der freiberuflichen Journalist*innen (rund 27 Prozent) verdient nur zwischen 601 und 1.200 Euro pro Monat (…) Insgesamt 43 Prozent der hauptberuflichen Journalist*innen schätzen ihre Arbeitssituation als prekär ein, bei den Freiberuflern sind es sogar 62 Prozent."

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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