Teasergrafik Altpapier vom 27. Oktober 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 27. Oktober 2020 Die Invasion der Stumpenkerzen

27. Oktober 2020, 10:18 Uhr

Altkanzler Schröder inszeniert sich vor Bismarck anstatt im Irish Pub, weiße Stumpenkerzen invadieren die USA, und Anne Will lässt die Maske fallen. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Steppweste auf nacktem Altkanzlerrumpf

Wunderbar! Endlich hat sich jemand an eine Wohnungsbesichtigung via pandemiebedingter Privat-Fotos gewagt! Das ist spitze, denn schon lange warte ich auf amtliche Einrichtungskritiken und –Analysen in den Medien, damit auch ich endlich meinen Videocall- und Insta-Foto-Senf dazugeben darf. Aber zunächst zum Kollegen Arno Frank im Spiegel: "Bodenheizungswarme Bedeutungslosigkeit" spöttelt sanft schon die Überschrift zum Text im Kulturressort. Es geht um Altkanzler Gerhard Schröder, der anscheinend viel Zeit für sein persönliches Bühnenbild hat, und sich mit Vorliebe auf dem Instagram-Kanal seiner Frau Schröder-Kim tummelt. Frank schreibt:

"Zwar gilt das Private als politisch, und auf Instagram wird dieses Politische sozusagen als intime Außenpolitik öffentlich ausgestellt. Wie durch ein virtuelles Schlüsselloch ist da aber nur zu sehen, was gesehen werden soll. Politisch steht der emeritierte Kanzler wegen seiner geschäftlichen wie freundschaftlichen Nähe zum Kreml unter Druck. Zu sehen ist davon auf Instagram: nichts.

Dafür gibt es Gerhard Schröder in allen Lebenslangen. Beim Aufhängen eines Bildes mit dem Hammer in der Hand. Beim Herzeigen eines Sträußchens mit Feldblumen. Beim Herumsitzen in Parlamenten oder Herumstehen mit wichtigen Leuten. Beim Rühren von Bratkartoffeln in der Pfanne auf dem Induktionsherd, wobei er über mutmaßlich nacktem Oberkörper eine blaue Steppweste trägt."

Hi-hi-hilfe... Steppweste auf nacktem Altkanzlerrumpf! Zum Fußnagelhochrollen, was der Kollege beobachten musste. Auch der Literaturblog 54books hat gelesen, geschauert und geschrieben: Mit dem Titel "Home Office im Altkanzleramt: Eine Bildbetrachtung" sinniert der Autor unter anderem über das Bismarck-Portrait, das auf einem Insta-Foto von Schröder und Schröder-Kim an der Wand zu sehen ist:

"Rätsel gibt auch ein großes Bismarck-Porträt auf – Bismarck, ernsthaft? Der "eiserne Kanzler", dessen Sozialistengesetz Linke und Arbeiterbewegung als "Reichsfeinde" polizeilich bekämpft hatte?"

Candle in the wind

Tja, will man eifrig und streberhaft nicken, selber Schuld, wer sein Privates auf diese Art und Weise politisch macht. Und das Gleiche gilt auch für sämtliche unfreiwillig mitgeschnackten Details aus Video-Konferenzen: Möööönsch, wieso lässt man sich nicht vor dem virtuellen Irish Pub-Hintergrund schalten, den einer der Anbieter zur Wahl stellt, so wie jeder vernünftige Mensch? Oder vor dem Space-Foto?

Was mir jedoch schon seit einiger Coronazeit auffällt, und was ich sofort als Verschwörungstheorie anbieten würde, wenn das eigentlich unterhaltsame Thema Verschwörungstheorie nicht momentan unerträglich idiotenbesetzt wäre: Signifikant viele US-amerikanischen Entertainment-Künstler*innen haben (oft unanständig monströse) weiße Stumpenkerzen in ihren Buden. Wahrhaftig.

Das erste Mal fiel mir die heimliche Stumpeninvasion im April im Stream der Veranstaltung "One world together at home" auf, mit der nach Trumps WHO-Absage Geld gesammelt wurde, hier ist zum Beispiel die Performance Lady Gagas, deren persönliche weiße Stumpenkerze auf ihrem weißen Klavier brennt (bei 2.13 zu sehen). Und bei den Prime Time Emmy Awards im September ging es weiter: Was leuchtet auf dem Tischchen neben der Nominierten Margo Martindale? Genau. Was flackert zwischen Kerry Washington und Reese Whitherspoon? Yup. Und was steht (glaube ich) genau hinter Zendaya, die die "Beste Hauptrolle in einer Dramaserie" gewann? Beängstigend, aber wahr. Daraus soll jetzt bitte jede*r einen eigenen Schluss ziehen. Nur soviel: Mit Hamsterkäufen hat es nichts zu tun.

Was danach geschah

Und wir bleiben bei "Now you see it, now you don’t" (wer eine laute Musikpause braucht: hier was Ozzy Ozbourne dazu sagt, und hier Frank Zappas Interpretation des Themas): Bei Anne Will gab es am Sonntag ein "Masken-Gate" geifert es unter stern.de. Nach Ende der Spezialsendung zu den steigenden Infektionszahlen, die Wills Redaktion mit Michael Müller, Gerhart Baum, Helga Rübsamen-Schaeff,  Julia Nida-Rümelin, Armin Laschet und die Leiterin des Gesundheitsamtes Wiesbaden Kaschlin Butt bestückt hatte, und in der es mit viel Expertise um die Akzeptanz für Regeln, um verschärfte Maskenpflichten, um Appelle an die Bürger*innen und um das Für und Wieder der Tracking App ging (wer es nochmal anschauen möchte: hier), passierte nämlich laut dem Stern Folgendes:

"Kaum hatte Anne Will die Zuschauer verabschiedet, sprangen fast alle Gäste der Runde auf. Ex-Minister und FDP-Mann Gerhart Baum schlenderte gleich zu Armin Laschet rüber und unterhielt sich ohne nennenswerten Abstand und natürlich ohne Maske, die während der Sendung natürlich niemand getragen hatte, entspannt und lächelnd. Auch Julian Nida-Rümelin - einst Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder (SPD) - erhob sich, wollte sich zunächst eine Maske anlegen, nahm sie dann aber wieder ab und stellte sich zur Gastgeberin, die dann noch einen Schritt näher an den Philosophie-Professor heranrückte."

Ulrich Schneider vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband twitterte sofort eine Rüge, andere folgten, schließlich entschuldigte sich Will, dokumentierte stern:

"'Wie blöd von mir', stellte die 54-Jährige zerknirscht auf ihrem Twitter-Account fest. 'Dabei haben wir schon im Rausgehen wieder eine Maske aufgehabt', schrieb sie weiter - versehen mit dem Hashtag #maskeauf."

Und obwohl ich die Zerknirschung angemessen finde – die oben zitierten Stern-Formulierungen gießen tüchtig Öl in die klitzekleine Stumpenkerze: Niemand "sprang auf", schon gar nicht der 87jährige Baum; wieso steht zwei mal das rechthaberische "natürlich" im zweiten Satz; und was hat das "entspannt und lächelnd" in diesem Zusammenhang zu suchen?! Die FAZ kommentierte dementsprechend unaufgeregter, und wies auf etwas anderes hin:

"So ging es bei der Kritik an den Abspann-Bildern nicht um die epidemiologischen Risiken im Fernsehstudio von Anne Will sondern um die damit verbundene Symbolik. Was aber wiederum der passende Kommentar zur Sendung war. Schließlich hatte Armin Laschet (CDU) eine Absage des CDU-Parteitages zur Neuwahl eines Parteivorsitzenden mit der damit verbundenen Symbolik begründet."

Patzer, Blitzer, Flitzer

Der Spiegel verlor über die Sache mit dem Abspann in seiner sachlichen Kritik übrigens kein Wort – entweder weil der Rezensent mit dem ersten Ton des Abspannjingles die Kiste aus- und das Schreibprogramm angeschaltet hatte, was soll er auch sonst machen, er muss ja stante pede online, der vermaledeite Text; oder weil der Post-Sendungs-Fehler die Inhalte nicht übertünchen sollte, so wie in der Bildzeitung, die "Masken-Patzer" wetterte.

Ich wette um siebzehn Stumpenkerzen, wenn demnächst irgendeiner weiblichen Person mit Big Brother-Flair Maske und Bluse gleichzeitig locker sitzen, dann lautet die Überschrift "Skandal: Masken-Patzer und Busen-Blitzer". Nicht auszudenken, wenn jene Person dann auch noch im gleichen desolaten Zustand über einen Fußballplatz (beispielsweise bei einem der traurigen Spiele auf Schalke) rennen würde: "Fußball-Flitzer mit Masken-Patzer und Busen-Blitzer" Hi-hi-hilfe.


Altpapierkorb ( ...mit einem Geschenk-Papier, Kichern über Jeffrey Toobin, Googles offene Portokasse und dem häuslichen "Süßes oder Saures")

+++ Sie sollten unbedingt hier ein sehr schönes "Geschenk-Papier" zu unserem 20. Wiegenfeste lesen, es stammt von Diemut Roether (epd Medien) und Dieter Anschlag (Medienkorrespondenz), und beobachtet Medienkritik im Wandel der Zeiten. Roether: "Mich beschäftigt, dass die Medienkritik durch die sozialen Medien zu einer Art Volkssport geworden ist"

+++ Noch ein weiterer kleiner Schenkelklopfer zu "Now you see it, now you don’t": Jeffrey Toobins schenkelklopfhumorevozierende Peinlichkeit beim Zoomcall, die der Kollege bereits hier beeindruckend taktvoll im Altpapier besprach, ganz anders als die Morning Show-Mitarbeiterinnen in dieser sehr sehr kicherigen Schalte... ich bin, zugegeben, auch nicht frei von dieser Art Albernheit, prust.... dass der New Yorker ihn suspendiert hat, verstehe ich allerdings nicht, erstens haben die wunderbare Cartoonistinnen, die sich richtig austoben könnten, und zweitens macht Onanieren doch nicht blind. Oder dumm.

+++ Die taz berichtet hier über die "offene Portokasse" Googles:

"Mehr als 200 Millionen Euro hat Google in den vergangenen sieben Jahren an europäische Medienunternehmen ausgeschüttet. Einfach so, ohne Bedingungen, ohne aktenkundiges Verlangen nach Gegenleistungen."

Am Ende gibt es eine vernichtende Bilanz:

"Dabei ist der pragmatische Zynismus der Verlage nicht einmal das Schlimmste. Viel besorgniserregender ist die Selbstbeschreibung einer Branche, die eine wirklich digitale Transformation aus eigener Kraft im Traum nicht finanzieren würde." Gruselig.

+++ Und der RBB macht noch eine neue aktuelle Baustelle auf: Die Brandenburger Gesundheitsministerin ist pandemiebedingt gegen Halloween-Klingeltouren von Kindern, Freddy Krüger-Maske hin, Hulk-Maske her! Aber man schlägt auch gleich Alternativen vor:  "Die Kinder verkleiden sich, klopfen dann zum Beispiel an die Tür der Eltern und bekommen Süßigkeiten", wird eine Ärztin zitiert. Wieso nicht. Nur das Erschrecken darf man nicht vergessen.

Das nächste Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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