Das Altpapier am 23. Oktober 2020 Mehr als legitime Subjektivität
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23. Oktober 2020, 12:15 Uhr
Nach dem zweiten TV-Duell zwischen Trump und Biden bemüht selbst Fox News sich um mehr Ausgewogenheit als "Bild". Bob Woodward hat etwas Überraschendes über den Vertrauensverlust in Medien gelernt. Die Augsburger Allgemeine bemüht sich um eine Lösung, mit wenig Erfolg. Ein Altpapier von Ralf Heimann.
"Bild" noch einseitiger als Fox News
Nach dem zweiten TV-Duell zwischen Donald Trump und Joe Biden in der Nacht zu Freitag europäischer Zeit titelt die New York Times:
"In der ruhigeren Debatte bieten Biden und Trump stark unterschiedliche Visionen für die Nation"
"Trump und Biden verbreiten in der abschließenden und weniger erbitterten Debatte deutlich unterschiedliche Visionen für die Nation"
(Später verändert in: "Zweite Trump-Biden-Debatte hat weniger Unterbrechungen, aber mehr Gegenschläge")
Die CNN-Überschrift auf der Titelseite lautet (kein Link, die Überschrift dürfte längst wieder eine andere sein):
"Eine substanziellere Debatte, aber immer noch voller Feuer und Unwahrheiten"
Über dem eigentlichen Artikel steht:
"Trump verpasst in der Schlussdebatte mit Joe Biden den von ihm gewünschten spielentscheidenden Moment"
Und Fox News hat sich für folgende Variante entschieden:
"Trump und Biden geraten aneinander in Geschäftsfragen zu Hunter Biden bei abschließender Präsidentschaftsdebatte"
Vor allem an den letzten beiden Überschriften ist auch zu erkennen, wie die Kommentatoren das Ergebnis bewerten wollen. Und das ist auch in Deutschland möglich.
Auf der Titelseite der "Bild"-Zeitung standen am frühen Morgen folgende Überschriften und Dachzeilen:
"Bidens Patzer wird für Trump zur großen Chancen"
"Trump profitiert von Biden-Ansage gegen Öl-Industrie"
"Trump: Werden in wenigen Wochen einen Impfstoff haben"
"Biden zieht Hitler-Vergleich"
So viel Einseitigkeit hält anscheinend nicht mal Fox News für seriös. Und es ist nicht nur die Einseitigkeit. Trumps Aussage zum Impfstoff ist in jedem Fall höchst zweifelhaft, möglicherweise einfach wieder mal eine Lüge.
Die Wissenschaftsredaktion der Deutschen Welle berichtete in dieser Woche, dass weltweit etwa 200 Teams an einem Impfstoff arbeiten, 44 haben bereits danach mit Versuchen am Menschen begonnen. Die Wissenschaftler hoffen laut Deutscher Welle in 12 bis 18 Monaten einen Impfstoff zu haben. Bei Interesse: Der NDR hat zu dem Thema nun den Podcast "Die Jagd nach dem Impfstoff" gestartet.
"Bild"-Kommentator erklärt eigene Methode
Die "Bild"-Medien veröffentlichen nicht ausschließlich Trump-freundliche Beiträge. Es scheint also keine der üblichen "Bild"-Kampagnen in der bekannten Form. Am Donnerstag erschien auch eine Meldung mit Äußerungen Barack Obamas über seinen Nachfolger ("Donald Trump ist unfähig"). Am gleichen Tag durfte Trumps kurzzeitiger Sprecher Anthony Scaramucci über die "Bild"-Medien seine Einschätzung über seinen ehemaligen Chef verbreiten ("Trump ist ein Demagoge").
Wobei, ein kurzer Einschub, es den Reportern anscheinend nicht gelungen ist, eine Antwort von Scaramucci auf die Frage zu bekommen, wieso er damals diesen Posten übernommen hat ("Warum er dennoch für Trump gearbeitet hat, bleibt Scaramuccis Geheimnis"). So geheim ist das allerdings gar nicht. Es steht auf Seite 166 in Klaus Brinkbäumers und Stephan Lambys vor ein paar Tagen erschienenen Buch "Im Wahn – die Amerikanische Katastrophe". Dort sagt Scaramucci: "Ach, ich gebe all meine menschlichen Schwächen zu und gestehe, dass ich moralisch scheinheilig war. In der Rückschau hätte ich mich gern anders verhalten."
Bei der Gelegenheit noch schnell der Hinweis: Der Dokumentarfilm zum Buch ist ab Montag (26. Oktober) um 18 Uhr in der ARD-Mediathek zu sehen, um 22.50 Uhr dann auch im linearen ARD-Fernsehprogramm.
Aber zurück zum Thema. Die "Bild"-Medien veröffentlichen hier und da zwar eine kritische Trump-Meldung, aber anscheinend bemühen sie sich dann, die Schlagseite in den Meinungsbeiträgen wieder herzustellen.
Johann Aschenbrenner hat sich für das Bildblog einen Kommentar von Alexander von Schönburg etwas genauer angesehen. Und von Schönburg schreibt – wir denken noch einmal an die Impfstoffe:
"Genau die Leitmedien – von 'Atlantic' bis 'Washington Post' – die bedenkenlos jede Anti-Trump-Story verbreiten, unabhängig von Belegbarkeit und Quellenlage (man denke an Trumps angebliche Beleidigung gefallener Soldaten), haben keine Hemmung, Storys, die Biden unangenehm werden könnten, unter den Tisch zu kehren."
Damit meint er die Story über einen auf mysteriöse Weise aufgetauchten Computer, der angeblich Daten von Joe Bidens Sohn Hunter Biden enthalten soll. Um sie ging es im Altpapier schon in der vergangenen Woche (zunächst hier, dann um die Folgen noch einmal hier). Und um die Stichhaltigkeit der Informationen nur mit einem Detail zu verdeutlichen: Fox News hat die Recherche nach einem Bericht des Independent aufgrund von Zweifeln an der Glaubwürdigkeit zurückgewiesen.
Diese Zweifel thematisiert von Schönburg in keiner Weise, wie er auch nicht erwähnt, dass es für die Beleidigung gefallener Soldaten, die er in seinem Zitat anführt, mehrere Quellen gibt, deren Aussagen seriöse Medien und sogar Fox News bestätigen.
In Bezug auf das aktuelle TV-Duell plappert von Schönburg laut Aschenbrenner Falschinformationen nach, etwa dass die Themen der Debatte kurzfristig geändert worden seien. Was er mache, sei "mehr als legitime Subjektivität". Anders gesagt: Im Grunde beschreibt der "Bild"-Autor in seinem Zitat oben, wie Aschenbrenner belegt, nur seine eigenen Methodik.
Woodward und das Misstrauen
Roland Nelles hat für den Spiegel mit dem Journalisten Bob Woodward gesprochen (€), der zusammen mit Carl Bernstein den Watergate-Skandal enthüllt hat und sich jetzt an Donald Trump die Zähne ausbeißt. Interessant ist zum Beispiel, was Woodward über das Misstrauen sagt, das Medien heute entgegengebracht wird.
Woodward:
"Ich habe gerade etwas gelernt, das mich wirklich überrascht hat. Mein Buch kommt heraus, und eine Reporterin von CNN, Jamie Gangel, und meine Frau Elsa Walsh haben mich überredet: 'Du musst unbedingt die aufgezeichneten Gespräche veröffentlichen, die Gespräche mit Trump.' Und ich sagte: 'Aber das steht doch alles im Buch.' Und sie sagten: 'Nein. Du musst die Bänder freigeben, damit die Leute es selbst hören können. Die Menschen trauen den Nachrichtenmedien nicht, aber wenn sie es selbst hören, werden sie es akzeptieren. Trump hat die bekannteste Stimme der Welt. Die Leute werden sie hören und sagen: 'Ah. Das ist er. Das ist es, was er sagt. Das ist der Kontext. So ist es passiert.' Ich glaube, am Ende haben die Menschen die Wahrheiten in diesem Buch auch deshalb angenommen, weil sie diese Aufzeichnungen der Gespräche gehört haben. Niemand hat 'Fake News!' gerufen."
Der letzte Satz stimmt zwar so nicht ganz. Und auch in der Frage, ob Tonbandaufzeichnungen wirklich eine Rolle spielen, wenn es darum geht, Menschen von der Wahrheit zu überzeugen, bin ich mir nicht wirklich sicher. Für Trumps Aussagen zu seinem Umgang mit Frauen aus dem letzten Wahlkampf ("Grab her by the pussy") gibt es schließlich auch Tonbandaufzeichnungen. Aber was natürlich stimmt: Medien können berichten und belegen, was sie wollen. Es nützt alles nichts, wenn die Menschen ihnen nichts mehr glauben.
Und wo das passiert ist, muss der Journalismus versuchen, Wege zu finden, dieses Vertrauen wieder herzustellen.
Augsburger Allgemeine wagt Experiment
Ein aktuelles Beispiel aus der Augsburger Allgemeinen zeigt allerdings, dass das sehr viel einfacher klingt, als es in der Realität zu sein scheint.
Die Zeitung hat sechs ehemalige Abonnentinnen und Abonnenten zum Gespräch eingeladen, fünf kamen. Sie hatten die Zeitung abbestellt, weil sie mit der Berichterstattung unzufrieden waren. Die Vereinbarung sei gewesen, dass die Diskussion am Ende als Text veröffentlicht wird, wie Redakteur Daniel Wirsching es in seiner Dokumentation dieses kommunikativen Unfalls erklärt. Dazu kam es am Ende nicht. Das lag laut Wirsching unter anderem daran, dass die Gäste nicht mit der Art und Weise einverstanden waren, in der die Redaktion den Text bearbeitet hat. So begründeten sie laut Wirsching jedenfalls die Rücknahme ihrer Zusage. Ein Teilnehmer habe die Redaktion ausdrücklich für die Art der Gesprächsführung gelobt.
"Andere Gesprächsteilnehmer reagierten mit erneuter Kritik. Ihre Aussagen seien zu stark gekürzt worden. Man habe sie doch in die rechte Ecke gestellt. Die Redakteure hätten nicht nach eigenen Fehlern gesucht, sondern ihren Standpunkt behalten und ausgeteilt",
schreibt Wirsching und fragt:
"(…) was hatten sie erwartet? Dass unsere Redaktion ihnen uneingeschränkt recht gibt? Dass sie Verschwörungsmythen weiterverbreitet, die einige der Gesprächsteilnehmer erwähnten? Dass sie auch dem heftigsten Vorwurf, dem abwegigsten Vergleich nicht entgegentritt?"
Eine der Unfallursachen scheint hier wie in so vielen Fällen die fehlende Übereinkunft darüber zu sein, dass Verschwörungsmythen keine gleichgewichtigen Argumente sind (Stichwort False Balance: Altpapier). Eine andere Ursache betrifft die Art und Weise, wie die Differenz in so einem Fall aufzulösen ist. Unter Umständen geht das nämlich nicht. Das funktioniert nur mithilfe der hier schon oft bemühten Superkraft der Ambiguitätstoleranz. Die Lösung ist nur in den seltensten Fällen, dass die andere Seite die eigene Überzeugung annimmt, denn oft das bekanntlich nicht so viel mit Fakten zu tun. Edmund Stoiber sagte vor zwei Jahren bei einer Diskussion, bei der ich im Publikum saß, den Satz (aus der Erinnerung): "Eine Diskussion gewinnt man nicht mit Argumenten."
Und so scheint es auch in diesem Fall gewesen zu sein. Gewinner gab es nicht.
"Nach dem Gespräch ist auf beiden Seiten ein gemischter Eindruck geblieben. Das Gros der ehemaligen Leserinnen und Leser fühlte sich in seinen Vorbehalten bestärkt. Ein Teilnehmer sagte am Telefon dagegen, die Runde als positiv wahrgenommen zu haben und mit Aussagen – etwa zu Ken Jebsen – nicht in Zusammenhang gebracht werden zu wollen. Unsere Redaktion, so das Meinungsbild, hält manche Kritikpunkte für durchaus berechtigt. Sie will künftig versuchen, Zahlen zur Pandemie stärker einzuordnen oder manche Fragen und Probleme klarer zu benennen. Bei anderen Punkten stößt sie an ihre Grenzen – und wird Erwartungen von Kritikern zwangsläufig nicht gerecht werden."
Und damit zum…
Altpapierkorb (Drittsendezeiten, Stereotype in Serien, Arte-Vorsitz, Snowden, Assange, Lokalprojekte)
+++ Bislang musste Sat1 Magazine wie "Focus TV" oder Produktionen der Firma DCTP zeigen, weil Privatsender mit einem bestimmten Marktanteil dazu verpflichtet waren. Diesen Anteil hat Sat1 nun gar nicht mehr, wurde die Sendungen aber über Jahre trotz Klagen und aller möglicher Bemühungen trotzdem nicht los. Das ist nun erst einmal gelungen. Michael Hanfeld spricht in seinem Text auf der FAZ-Medienseite (55 Cent bei Blendle) von einem "running gag der jüngeren deutschen Mediengeschichte, eine Farce in unzähligen Akten", die nun ein Ende hat. Und falls Sie das alles selbst noch mal nachverfolgen möchten, dann suchen Sie nach "Drittsendezeiten". Laut Hanfeld kann es übrigens sein, dass es mit dem "running gag" weitergeht.
+++ Sind Serien tatsächlich progressiver als Kino- und Fernsehproduktionen? Also kommen in ihnen weniger Stereotype vor? Mit dieser Frage hat sich eine Studie beschäftigt, über die Carolina Schwarz für die taz berichtet. Fazit: "Streamingangebote sind zwar diverser als lineares Fernsehen, aber auch hier bestehen noch große Lücken. Beispielsweise bei der Repräsentation von nicht-binären und trans Personen."
+++ Zum 1. Januar wird der Präsident von Arte France, Bruno Patino Vorstandsvorsitzender von Arte, berichtet unter anderem dpa (hier zu lesen bei Digitalfernsehen.de). Patino übernimmt den Posten von Ex-SWR-Intendant Peter Boudgoust. Die Amtszeit dauert vier Jahre. Deutschland und Frankreich besetzen den Posten im Wechsel. Und noch ein Wechsel: Den Chefposten des Aufsichtsgremiums, der Mitgliederversammlung, übernimmt zum 1. Januar ARD-Chef und WDR-Intendant Tom Buhrow.
+++ Edward Snowden darf in Russland bleiben, so lange er möchte, berichtet unter anderem der Spiegel. Snowden bekommt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Einen russischen Pass will er laut der Meldung aber nicht beantragen.
+++ Das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres erinnert daran, dass Wikileaks-Gründer Julian Assage weiterhin im Gefängnis sitzt. Wikileaks hat genau vor zehn Jahren die "Iraq war logs" veröffentlicht, fast 400.000 Dokumente der US-Armee. Das hat auch die Art verändert, in der Journalisten arbeiten und zusammenarbeiten.
+++ Martin Machowecz schreibt in der aktuellen Zeit (€) über einen "Aufstand gegen die ARD" in Sachsen-Anhalt. Die CDU-Landtagsfraktion dort sei fest entschlossen, die Erhöhung der Rundfunkgebühren zu stoppen. Die Entscheidung darüber müssen alle Bundesländer einstimmig treffen. Daher wäre das möglich. Die CDU argumentiert mit den Kosten, aber man werde "den Eindruck nicht los, dass das Geld für die CDU eben nicht alleine im Zentrum steht. Dass es um einen speziellen, auch ostdeutschen Zorn geht".
+++ Das Saarland hat das Landesmedieengesetz geändert. Wie die Medienkorrespondenz berichtet, sind nun zum Beispiel Sitzungen des neunköpfigen Verwaltungsrats " 'in begründeten Fällen' in Zukunft auf als Telefon- oder Videokonferenzen möglich". Ja, tatsächlich. Das ist sie dann wohl, die Zukunft.
+++ Katja Wildermuth wird neue Intendantin des Bayerischen Rundfunks. Wildermuth kommt vom MDR, ist aber dennoch kein Import, sondern allenfalls ein "Re-Import", schreibt Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite. Und man erfährt auch sonst noch ein paar Details über ihre Vita: "Ihre Familie war, als Katja Wildermuth drei Jahre alt war, nach Anzing gekommen und bezog dort eine Wohnung, die davor der Torwart Sepp Maier bewohnt hatte, wie Wildermuth vorige Woche via Skype der SZ erzählte."
+++ Ulrike Simon schreibt für Horizont über die widersprüchlichen Rollen, in die sich Verlage begeben, wenn sie einerseits als Partner von Google Geld kassieren, andererseits aber gegen Google für Lizenzzahlungen kämpfen. Simon: "Ein wenig schizophren wirkt es schon, dass einige von ihnen gleichzeitig Gesellschafter der VG Media sind, die naturgemäß am zähesten um gesetzlich geregelte Lizenzzahlungen für Verlagsinhalte kämpft. Und das alles ausgerechnet jetzt, so kurz vor dem Ziel."
+++ Und noch ein Hinweis, der auch ein bisschen in eigener Sache ist: Marvin Schade berichtet für das relativ neue und unter anderem von ihm selbst gegründete Medienmagazin Medieninsider über neue Medienprojekte im Lokalen, unter anderem über RUMS Münster, für das ich arbeite.
Offenlegung: Mitgründer von RUMS Münster ist der oben erwähnte Klaus Brinkbäumer. Und: Ich arbeite gelegentlich für das Bildblog.
Haben Sie ein schönes Wochenende. Neues Altpapier gibt es am Montag.
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