Das Altpapier am 5. Oktober 2020 Die Fehler der Eroberer
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05. Oktober 2020, 12:29 Uhr
Warum gibt es "nur einen ostdeutschen Verleger seit der Wiedervereinigung"? Ist es "dumm", dass die "großen Medienhäuser in den ehemaligen Gastarbeitern keinen Markt sehen?" Wie sollen Politikjournalisten mit den gesundheitlichen Problemen sehr alter Politiker umgehen? Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
- Wer erinnert sich an den DDR-Medienminister Gottfried Müller?
- Neue NDR-Talkshow mit Trigger-Overkill
- Kranke alte Leute
- Trolle brauchen keine Orchestrierung
- Breaking News: Gerhard Schröder ist ein Linker
- Altpapierkorb (Aserbaidschans Angriff auf Bergkarabach, die neuen alten Freiheiten des BND, #RechtsDeutschRadikal, 25 Jahre "Kulturzeit", zehn Jahre Instagram)
Wer erinnert sich an den DDR-Medienminister Gottfried Müller?
Das Wochenende bietet sich ja manchmal auch für die Lektüre von Artikeln ohne direkten tagesaktuellen Bezug an. Ich habe die Gelegenheit genutzt - und ein Doppelinterview mit Mela Kiyak (Zeit Online, Republik u.a.) und Max Czollek gelesen, das Ende September in der neuen Ausgabe des vierteljährlichen Musik- und Literaturmagazins Das Wetter erschienen ist. Kiyaks Äußerungen in diesem Gespräch sind - sonst würde ich das hier nicht erwähnen - gute Ausgangspunkte, um diverse Aspekte rund um die Themen Einheit und Diversität aufzugreifen, die in diesen Tagen in mediendebattösen Kontext kursieren. Kiyak sagt zum Beispiel:
"Wenn man als deutscher Journalist mit astreinem deutschen Stammbaum über die ressentimentgeladene Mitte schreibt, beschreibt man die eigenen Leute. Das sind Journalisten, die im Zweifel über ihre Väter und ihre Cousins berichten, da fällt das Urteil automatisch milder aus. Ich sage meinen Kollegen dann, dass ich biographisch bedingt nicht die gleiche Güte und Nachsicht haben kann. Manchmal hilft es, etwas plumper zu sein und zu sagen: (…) Meine Leute sind nicht durch Deutschland gereist und haben ihre Waffen an die Köpfe eurer Väter und Brüder gehaltenem sondern umgekehrt."
Vom Thema mangelnde Diversität in der Berichterstattung über die Radikalisierung der "Mitte" gelangt Kiyak zu einer Branchenkritik, die mindestens unterrepräsentiert ist:
"Es gibt keine einzige Zeitung, die nach dem Vorbild 'Zeit im Osten' einen Politik-, Kunst und Kulturreportageort für Migranten hat (…) Die großen Medienhäusern sehen in den ehemaligen Gastarbeitern keinen Markt. Was sehr dumm ist."
Wenn man den Begriff Diversität weiter fasst, bietet es sich durchaus an, einen Satz - beziehungsweise einen der vielen tendenziell manierierten Ein-Satz-Absätze - aus dem achtseitigen Porträt zu zitieren, das Alexander Osang über Holger Friedrich, den Besitzer der Berliner Zeitung, für den Spiegel (€) geschrieben hat:
"Er ist der erste ostdeutsche Zeitungsverleger seit der Wiedervereinigung."
Wollte man einen Gedanken von Kiyak weiterführen, könnte man sagen: Immerhin gibt es einen. Eine deutsche Zeitungsverlegerin oder einen deutschen Zeitungsverleger, deren oder dessen Eltern aus der Türkei eingewandert sind, gibt es hingegen nicht.
Man kann aber natürlich auch fragen, warum es nur einen "ostdeutschen Zeitungsverleger seit der Wiedervereinigung" gibt? An dieser Stelle können wir dann rüberblenden in ein Interview, das unser MDR-Kollege Steffen Grimberg für die taz am Wochenende mit der Medienwissenschaftlerin Mandy Tröger unter anderem zu der Frage geführt hat, warum die zahlreichen ostdeutschen "Zeitungsneugründungen" die "für eine neue demokratische Partizipation" standen, schnell wieder "bankrott gingen".
Im Zusammenhang damit, "wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten" - so lautet der Untertitel von Trögers Buch und Dissertation - erwähnt sie den zumindest meiner Wahrnehmung nach weitgehend vergessenen Gottfried Müller, der von April bis Oktober 1990 Minister für Medienpolitik der DDR war:
"Medienminister Müller (…) hat zum Beispiel klar gesehen, was passiert, wenn die starken SED-Bezirkszeitungen mit großen Westverlagen zusammengehen. Schnell wurde auch klar, dass der Westen das geplante umfassende Mediengesetz nicht wollte. Da sollte es um Dinge wie ‚innere Pressefreiheit‘ gehen, was für die Verleger ja bis heute ein rotes Tuch ist. Alles, was aus der Diktaturerfahrung der DDR absolut Sinn machte, wie man Medien und Journalismus neu denken muss, fiel durchs Raster. Ziel der BRD war es, die Westverhältnisse und -strukturen nicht durch neue Konzepte zu gefährden. Das Westsystem sollte vielmehr eins zu eins im Osten übernommen werden – so kam es dann ja auch, bis hin zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk."
Das führt unter anderem zu der interessanten spekulativen Frage, ob die Medienbranche heute unter weniger Krisensymptomen leiden würde, hätten sich die westdeutschen Eroberer damals darauf eingelassen, "Medien und Journalismus neu zu denken".
Schließlich benennt Tröger noch eine nach ihrer Ansicht fundamentale Schwäche der deutschen Mediendebatte:
"Wie bestimmen Wirtschafts- und Politikinteressen das Mediensystem, das wir haben? Dieser Ansatz ist in der deutschen Kommunikationswissenschaft ausgestorben (…) Dabei ist die Frage nach der wirtschaftlichen Dimension genau so wichtig, wenn wir heute über Medientransformation und Digitalisierung sprechen. Das wird aber in der wissenschaftlichen und politischen Debatte häufig außen vor gelassen."
Als ergänzende Lektüre sei noch ein Anfang des Jahres erschienener Artikel von Sebastian Friedrich für Analyse & Kritik empfohlen, der unter anderem auf Trögers Buch basiert.
Neue NDR-Talkshow mit Trigger-Overkill
Diversität, etwas anderes Kapitel: In der Nacht von Freitag auf Samstag startete im linearen Nachtprogramm des NDR Fernsehens die Talkshow "deep und deutlich". Im Interview, das vor dem Sendestart in der taz erschien, stellt Co-Moderatorin Aminata Belli heraus, dass man jenen großen Fehler, der sonst fast immer gemacht wird, wenn nicht-biodeutsche Gäste in TV-Sendungen zu sehen sind, nicht gemacht hat:
"Wir haben mit (unseren) Gästen nicht über Herkunft gesprochen. Gar nicht. Außer mit dem Musiker Clueso, und der ist ein weißer Mann aus Thüringen. Genau das ist es, worum es uns in ‚deep und deutlich‘ geht. Wir stellen Fragen, die das Thema des Gastes behandeln, und in den meisten Fällen muss ich dazu nicht die Herkunft thematisieren."
Recht euphorisch fällt die Nachbesprechung in der SZ aus:
"Kein biodeutsches Moderatoren-Team, keine Lanz-artige Standard-Besetzung aus Politiker, Journalistin, Naturexperte, Autorin und Comedian, bei der die Themensprünge von ernst zu spaßig so vorhersehbar wie langweilig sind (…) ‚deep und deutlich’ springt hin und her zwischen krass und verrückt, zwischen Information und Emotion und ist zwischendurch ein absoluter Overkill, Trigger nach Trigger."
Kranke alte Leute
Welche generellen Überlegungen aus Donalds Trumps Krankheit folgen könnten oder müssten - damit befasst sich Ben Smith, der Medienkolumnist der New York Times, in einem Artikel mit der Überschrift "How to cover a sick old man":
"Physical decline is likely to be a major feature of the next few years of American politics, at least. The current line of succession, after Mr. Trump and Vice President Mike Pence, features Speaker Nancy Pelosi, who is 80, and the Senate president pro tempore, Charles Grassley, 87, who also runs the Senate Finance Committee. Ms. Pelosi’s two most powerful deputies in the House, James Clyburn and Steny Hoyer, are both 80 or older. Over in the Senate, the chairman of the Armed Services Committee is 85 and coasting to re-election. The chairman of the Appropriations Committee is 86. Joe Biden, who turns 78 next month, is nearly a year younger than the Senate majority leader, Mitch McConnell, who is also seeking re-election in November."
Und das bedeutet?
"(T)hat journalists must get past the taboos and be frank about the normal process of aging (…) For the next few years, at least, our leaders’ age and health will remain big news. We need a reporting culture that’s ready to handle the public decline of this generation of leaders, as long as they insist on declining in public. Searching questions about everything from sleep to cognition shouldn’t be off limits. 'It will help if reporters are medically knowledgeable, and ask the right questions, e.g. blood pressure, heart rhythm, sleep disorders,’ Dr. Mark Fisher, a professor of neurology and political science at the University of California, Irvine, told me on Sunday."
Abgesehen davon, dass sich die von Smith angerissenen Fragen hier zu Lande in dieser Form nicht stellen, weil die Politiker a bisserl jünger sind: Irre ich mich, wenn ich behaupte, dass von den führenden Medienjournalisten der führenden deutschen Tageszeitungen derart elaborierte Texte zu solchen Fragen nicht zu erwarten sind?
Trolle brauchen keine Orchestrierung
In einem Feature für den Deutschlandfunk hat sich Tom Schimmeck beschäftigt sich mit verschiedenen Facetten der Desinformation - damit, was sie anrichtet, und was getan werden könnte, um sie einzudämmen. Wie, nennen wir es mal: Fake-Diskurse entstehen können, beschreibt Schimmeck in einer Passage, die sich auf eine Untersuchung eines Teams um Kate Starbird (University of Washington) bezieht:
"Eigentlich hatten sie das Framing in der Debatte um Polizeigewalt und ‚Black Lives Matter‘ erforscht. Doch kaum war ihre Studie im Oktober 2017 fertig geworden, veröffentlichte Twitter eine Liste mit Accounts der Trollfabrik in St. Petersburg – über 3.000 Konten, die rund drei Millionen englischsprachige Tweets verschickt hatten. Starbird klickte die Liste an. Und erkannte etliche Akteure wieder. Das Team machte sich sofort an die Arbeit, und entdeckte, dass Trolle versucht hatten, sowohl Aktivisten von Black Lives Matter als auch deren oft rassistische Gegner anzufeuern. Wie Puppenspieler."
Schimmeck zitiert Starbird in diesem Zusammenhang folgendermaßen:
"Das war also nicht orchestriert. Das geschah organisch, wurde nur manchmal, wenn es nützlich schien, von russischen und anderen Outlets strategisch kultiviert und verstärkt. Doch die schufen nicht die Verschwörungstheorien. Die Aktivitäten mögen lose mit staatlicher Desinformation verknüpft gewesen sein. Was hier passiert: Menschen in diesen Online-Communities sind jetzt derart eingebettet in diese Art von Lehren oder Denkweisen über die Welt, dass sie, wenn sie neue Informationen bekommen, neue Ereignisse sehen, sofort beginnen, diese in ihre Leitideen einzubauen. Sie erzeugen für jedes neue Ereignis eine neue Theorie, die auf diesen Thematiken basiert, und nehmen das Ereignis als weiteren Beleg für diese großartige Verschwörung mächtiger Leute, die alles manipulieren. In deren Auftrag auch die Mainstream-Medien lügen."
Und diese "ständig neu generierten Verschwörungsmuster" werden dann aufgegriffen von "‚Online-Influencern’, von etablierten Medien und politischen Akteuren" (Schimmeck) und gelangen dadurch auch in unsere Kreisläufe und Bubbles.
Breaking News: Gerhard Schröder ist ein Linker
Manfred Bissinger wird 80 Jahre alt, und sein alter Buddy Gerhard Schröder schreibt für die SZ-Medienseite den Geburtstagstext. In einer Passage geht es um die von Bissinger gegründete Wochenzeitung Die Woche:
"Sie startete 1993 als Stimme der modernen politischen Linken, zu der ich mich damals zählte - und weiterhin zähle."
Einen größeren LOL-Moment hat mir eine gedruckte Medienseite schon lange nicht mehr beschert. Wenn jetzt noch der Papst verkündet, er verstehe sich als Teil der LGBTQ-Bewegung, könnte das eine lustige Woche werden.
Einen typisch jovialen Schröderismus hat der Mann von Gazprom im Zusammenhang mit der 2002 eingestellten Wochenzeitung dann auch noch parat:
"Ich gebe gerne zu, dass Die Woche für mich auch ein Medium war, wenn ich wichtige Botschaften setzen wollte."
Und da wir gerade beim Zugeben sind: Ich habe vereinzelt für Die Woche geschrieben.
Altpapierkorb (Aserbaidschans Angriff auf Bergkarabach, die neuen alten Freiheiten des BND, #RechtsDeutschRadikal, 25 Jahre "Kulturzeit", zehn Jahre Instagram)
+++ Dass es sich "manche Publizisten" zu einfach machten bei der Einordnung des aserbaidschanisch-türkischen Angriffs auf Bergkarabach, notiert Silvia Stöber vom "Faktenfinder". Diese sähen "einen 'Kampf der Kulturen' des christlich-abendländisch geprägten Armenien gegen das muslimisch geprägte Aserbaidschan mit seinem Verbündeten Türkei. Doch ob Kämpfer aus religiösen Gründen nach Aserbaidschan kamen, ist fraglich. Experten wie Elizabeth Tsurkov verweisen auf andere Gründe, nachdem sie mit Angehörigen gesprochen haben: Eine private türkische Sicherheitsfirma lockte die Männer demnach mit einem offenbar falschen Versprechen nach Aserbaidschan. 2500 Euro monatlich sollten sie für die Bewachung von Infrastruktur erhalten, nicht aber für den Einsatz an der Front. Außerdem leben in Syrien überwiegend Sunniten. In Aserbaidschan dominiert dagegen der schiitische Islam".
+++ Dass ein Gesetzesentwurf des Kanzleramts dem Auslandsgeheimdienst BND "auch künftig größtmögliche Freiheiten bei der Überwachung journalistischer Kommunikation im Ausland", einzuräumen gedenkt - darüber berichtet Christian Rath für die taz unter Verweis auf eine entsprechende Kritik von Reporter ohne Grenzen. In dem Entwurf für ein novelliertes BND-Gesetz habe das Kanzleramt "auch versäumt, die Rechte von Bloggern und 'Bürgerjournalisten' klarzustellen. Gerade in autoritären Staaten seien Blogger ohne Medienanbindung oft die einzigen unabhängigen Stimmen, die deshalb, so ROG, besonders schutzwürdig seien".
+++ Weitere Einschätzungen zur Pro-Sieben-Dokumentation "Rechts. Deutsch. Radikal" (Altpapier, Altpapier, Altpapier) seien nachgereicht. Harald Staun blickt für die FAS zurück (55 Cent bei Blendle): "Es (kann) ja nicht schaden, wenn man solche Themen auch einem Publikum näherbringt, das dokumentarisches Fernsehen sonst nur in der Form von 'Galileo'-Beiträgen kennt. Es ist nur leider nicht ganz egal, wie man das tut." Die Dokumentation könne "nicht verhindern, dass gerade das, was die einen für abschreckend halten, für andere anziehend wirkt". Dietrich Leder übt in seinem "Journal" für die Medienkorrespondenz viel Kritik im Detail - eine Schwäche der Dokumentation bestehe "in einem gewissen Stolz, all diese rechten und rechtsradikalen Personen zum Sprechen gebracht zu haben, die sich aber fast alle der Chance einer Präsenz im Fernsehen bewusst waren" -, zieht aber eine positive Bilanz: "Dass Pro Sieben anders als ARD und ZDF einen solchen Themenabend, ohne diesen so zu benennen, ins Programm brachte, sollte die Programmverantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Anstalten allerdings irritieren."
+++ Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums von "Kulturzeit" (siehe Altpapier von Donnerstag) würdigt Diemut Rother (epd medien, derzeit nicht online) das werktägliche 3sat-Magazin, merkt aber auch kritisch an: "Wie haben die politischen TV-Talkshows die politische Diskussionskultur verändert? Sind sie nicht mit für die Polarisierung der Gesellschaft verantwortlich, weil es in ihnen eben nicht um das gute Gespräch geht, sondern eher um den medienwirksamen Streit? Welche Auswirkungen hat die Vermischung von privatem und öffentlichem Gespräch in den sozialen Netzwerken auf unsere privaten Beziehungen und unser öffentliches Auftreten? Gerade weil die Redaktion konsequent Politik, Gesellschaft und Kultur zusammen sieht und reflektiert, würde man sich diese Themen durchaus häufiger in der Sendung wünschen." Und die Medienkorrespondenz geht anhand ausgewählter "Kulturzeit"-Ausgaben seit Beendigung der diesjährigen sechswöchigen Sommerpause am 17. August auf einige Spezifika der Sendung ein.
+++ Inwiefern hat Instagram "Kunst, Gesellschaft (und) Politik verändert"? In der aktuellen Ausgabe der Zeit nimmt Wolfgang Ullrich das zehnjährige Jubiläum des Netzwerks zum Anlass für entsprechende Überlegungen: "Instagramable zu sein heißt für die Kunst genauso wie für Inneneinrichtungen oder Make-up, für Sneakers, Tattoos oder Speisen, so animierend gestaltet zu sein, dass Bilder davon Aktivitäten innerhalb des Netzwerks stimulieren. Um von dessen Dynamik profitieren zu können und bestenfalls viral zu gehen, werden selbst weltanschauliche und politische Anliegen instagramable gemacht. Es ist sogar unvorstellbar geworden, dass es eine Form von Aktivismus geben könnte, die sich jenseits der Instagram-Ästhetik durchsetzen könnte."
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.
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