Das Altpapier am 6. Oktober 2017 Heiko Maas hat keinen Bock
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Das öffentlich-rechtliche Programm "muss eine Darstellung der Wirklichkeit sein, nicht eine Selbstdarstellung derer, die sie vermitteln", fordert ein früherer öffentlich-rechtlicher Programmdirektor. Außerdem: Warum ein in Deutschland lebender syrischer Radiomacher nicht "Flüchtling", sondern "Newcomer" genannt werden möchte; wie man das Thema Klimawandel "an die Leute bringen" könnte. Ein Altpapier von René Martens.
Am 11. Oktober beginnt in der Türkei der Prozess gegen die dort seit dem 30. April inhaftierte deutsche Journalistin Mesale Tolu, und das ist leider ein Anlass, mal wieder die Frage in den Raum zu stellen, ob die Bundesregierung eigentlich genug unternimmt, um sie (und Deniz Yücel sowie weitere inhaftierte Deutsche) frei zu bekommen. Der Blog des ARD-Hauptstadtstudios geht in diesem Zusammenhang auf Äußerungen der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen (Die Linke) ein:
"Dagdelen steht mit einigen Familien von in der Türkei Inhaftierten in Kontakt. Von denen hört die Linken-Politikerin: Man sei zufrieden mit dem Einsatz deutscher Diplomaten auf den unteren Ebenen - aber nicht so sehr mit Spitzendiplomaten und Politikern."
Daniel Pokraka referiert in seinem Beitrag schließlich folgenden Vorschlag Dagdelens:
"Die Regierung selbst müsse sich stärker für die Freilassung der Inhaftierten einsetzen - zum Beispiel, indem sie einen Beauftragten beruft, der mit der türkischen Regierung verhandelt. Das müsse auch kein aktiver Politiker sein, sondern vielleicht ein ehemaliger oder jemand aus der Wirtschaft. Es sei völlig unzumutbar, dass Deutsche 'in Foltergefängnissen eingekerkert' bleiben, sagt Dagdelen."
Mit der Situation Tolus befassen sich - mit Blick auf den Prozess - aktuell auch die Schwäbische Zeitung (aus der Region, aus der die Inhaftierte stammt) und die Frankfurter Rundschau (Tolu hat von 2007 bis 2012 in Frankfurt studiert).
Christian Mihr, der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen, weitet seine Kritik noch auf andere Regierungen aus. Die Jungle World zitiert ihn folgendermaßen:
"'Die EU muss in ihren Entscheidungen, so zum Beispiel über die EU-Beitrittsverhandlungen, geschlossen gegenüber der Türkei auftreten', fordert […] Mihr. Dazu gehöre auch der Einsatz von politischem und wirtschaftlichem Druck. 'Meşale Tolu und Deniz Yücel sind politische Geiseln im diplomatischen Streit zwischen den Regierungen der Türkei und Deutschlands.' Dieser Konflikt habe den Preis für die Freilassung der deutschen Inhaftierten in die Höhe getrieben. Nur so lässt sich erklären, dass die beiden weiter hinter Gittern sitzen, während andere Journalisten freikamen."
Brauchen die Polittalks neue Namen?
Der Debattenbeitrag des Tages stammt von Norbert Schneider, der ja immer für einen instruktiven Debattenbeitrag gut ist (siehe zum Beispiel dieses Altpapier aus dem März 2016). Für den Tagesspiegel befasst er sich nun mit den aktuellen Reformdebatten in Sachen öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Sein Text ist eine Mischung aus scharfer Kritik im Detail und scharfer Verteidigung im Grundsatz.
Was Schneider, einst Fernsehdirektor beim SFB, stört:
"Müssen immer öfter komplette Programmabende für keineswegs herausragende Fußballspiele geräumt werden, inklusive einer Stunde Aufwärmen und einer Stunde Ausbaden? Und dürfen darin Fifa, Uefa und DFB im Modus des social advertising kostenlos für sich werben, weil es sonst keine quotensichernden Fußballrechte mehr gibt?"
Ein anderer Kritikpunkt:
"Das Programm muss eine Darstellung der Wirklichkeit sein, nicht eine Selbstdarstellung derer, die sie vermitteln. Sollte man Talkshows zum Beispiel wirklich am besten nach den Eigennamen ihrer Gastgeber nennen?"
Das hat m.W. schon lange keiner mehr gefragt.
Einen leicht kämpferischen Tonfall hat Schneider aber auch drauf:
"Ein gutes Programm hat seinen Preis. Derzeit reicht das Geld. Doch es muss gewährleistet sein, – das ist Aufgabe der Politik! – dass es auch in Zukunft reicht. Am einfachsten wäre es mit einer Indexierung. Die Haushaltsabgabe ist nicht der 'Brotpreis der Nation', sondern der Preis, den die Bürger für einen Rundfunk bezahlen, der ihnen mit seinem Programm dient. Man kann die Annahme dieses Dienstes verweigern, etwa, indem man, wie es zur Zeit in der Schweiz diskutiert wird, die Gebühr per Volksentscheid und zum Entzücken der Medienmogule abschafft – und in eins damit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Man kann so tun, als sei die Schließung dieses Rundfunks das Gleiche wie die Offenhaltung von Tegel. Um die Größe dieses Irrtums zu erkennen, muss man nur beobachten, wie labil die US-amerikanische Öffentlichkeit geworden ist, seit sie am Tropf einer total deregulierten Publizistik hängt. Dagegen helfen nur Professionalität, stabile Strukturen und – ein Programm, das sich, sicher finanziert, auf der Höhe seiner Möglichkeiten befindet."
Rößner fühlt sich "hinters Licht geführt"
Die aktuell trübste, wenn auch nicht sonderlich überraschende Nachricht aus der Medienpolitik im weiteren Sinne:
"Anders als im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbart, wird es in dieser Legislaturperiode keine Evaluierung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger mehr geben."
Das hat golem.de vom einem Sprecher des Bundesjustizministers Heiko Maas erfahren. Damit "düpiert" der SPD-Mann "seine eigene Fraktion und den Koalitionspartner", meint das IT-News-Portal. Verabschiedet worden war das umstrittene Leistungsschutzrecht übrigens noch von der CDU/CSU/FDP-Regierung im März 2013. Die Partei, der Maas angehört, war damals noch dagegen, überlegte sich’s dann aber anders, als sie selbst in der Regierung war. Der erwähnte Passus aus dem Koalitionsvertrag lautet:
"Eine Systematisierung der bislang nebeneinanderstehenden Rechtsregelungen zum Internet (Internetgesetzbuch) wird geprüft und in diesem Zusammenhang das Leistungsschutzrecht hinsichtlich der Erreichung seiner Ziele evaluiert."
Auf Zinne ist nun zum Beispiel die von golem.de befragte grüne Medienpolitikerin Tabea Rößner:
"Vier Jahre lang hat die Bundesregierung uns hinters Licht geführt, indem sie behauptete, die Auswertung sei in vollem Gange. Die Wahrheit ist: Nichts ist passiert."
Gerade gestartet: der zwölf Folgen umfassende Podcast "Syrmania. Das Leben der Syrer in Deutschland", ein gemeinsames Projekt von Deutschlandfunk Kultur und dem syrischen Online-Sender Radio Souriali, das einen Einblick in das Leben von Syrern in Deutschland geben soll. Mit einem der Gründer von Souriali, dem Theaterregisseur und Schauspieler Bassam Dawood, hat Max Oppel für die DLF-Kultur-Sendung "Kompressor" über das Projekt gesprochen. Dawood erläutert in dem Interview unter anderem, warum er nicht "Flüchtling" genannt werden will. Der Begriff habe mit seiner Situation überhaupt nichts zu tun. "Flüchtling zu sein, ist nur ein Status", sagt er, er bevorzugt das Wort "Newcomer". Schließlich sei er nach Deutschland gekommen, um sein Leben hier fortzusetzen.
Altpapierkorb (Feige Funke-Hierarchen, Journos im Krimi, "denkendes Fernsehen")
+++ In drei Monaten geht das durch Crowdfunding finanzierte und mit hohen Erwartungen belegte Schweizer Digitalmagazin Republik an den Start. Was man versuchen wird, anders zu machen, deutet eine Äußerung des Republik-Mitgründers Christof Moser im Interview mit der Medienwoche an: "Eine der größten Herausforderungen des Journalismus ist es heute ja, hochrelevante Themen an die Leute zu bringen. Ein Paradebeispiel ist der Klimawandel. Eigentlich ein enorm wichtiges Thema. Aber ich merke es ja an mir selber: Wieder ein Grad wärmer oder ein größerer Eisberg abgebrochen – man nimmt es noch schulterzuckend zur Kenntnis. Für uns stellt sich darum die Frage: Wie gehen wir die Geschichten an, damit wir die Leute packen können. Das ist einerseits eine Frage der Haltung, andererseits der Dramaturgie und der formalen Umsetzung."
+++ Catalina Schroeder hat für das Medienmagazin journalist (für das auch ich schreibe) die beiden Buzzfeed-Deutschland-Führungskräfte Daniel Drepper und Sebastian Fiebrig interviewt. Letzterer sagt: "Wenn wir wollen, dass unsere User ein 30-minütiges Video mit einem Spitzenpolitiker gucken, während das ganze Netz vor lustiger Ablenkungen nur so wimmelt, dann müssen wir es eben schaffen, selbst ein Politikerinterview unterhaltsam rüberzubringen."
+++ In der aktuellen Kulturkolumne des Monatszeitschrift konkret befasst sich Daniel Kulla unter anderem mit dem Journalistenbild, das in deutschen TV-Krimis vermittelt wird: "Dort draußen gibt es die lästige Presse, die einem 'im Nacken sitzt', lauter Willige und Arglose, die der Polizei am laufenden Band wertvolle Informationen liefern, aber auch die Widerspenstigen, die das Recht zu haben meinen, mit der Staatsgewalt nicht zu reden und sie nicht in die Wohnung zu lassen. Solches Verhalten ist entweder sofort verdächtig und in der Logik der Sendungen ein Frühwarnzeichen für tatsächliche Gesetzesübertretung bis Mitwisserschaft, oder es wird zwar nicht kriminellen, aber unsympathischen Charakteren zugeschrieben, die asozial, gemein oder naiv sind. Auf (mögliche) Informanten werfen Medien wie Polizei einen ganz ähnlichen laienethnologischen Blick: Wer redet mit mir? Wer verarscht mich nur? Wer verpfeift gern? Wer verspricht sich was wovon? Oder wer kann einfach nichts für sich behalten? So kartografieren sie praktisch gemeinsam die Umrisse 'kooperativen' Verhaltens und verstärken es pausenlos: das soziale Gegeneinander untereinander, das Miteinander nach oben."
+++ Die FAZ lässt uns auf ihrer heutigen Medienseite wissen, dass der SPD-Europa-Politiker Tiemo Wölken eine Entscheidung des Kulturausschusses des EU-Parlaments, wonach "die Rechte von Kreativen zur Online-Verwertung ihrer Werke nicht eingedampft werden" nun "umgedreht" hat - und zwar mithilfe einer "Crash-Strategie", wie Wölkens im Artikel zitierte CDU-Kollegin Angelika Niebler sagt. "Es geht um ein kompliziertes Thema, eine EU-Verordnung, die darüber entscheidet, ob Europas (Film-)Kreative weiterhin Bedingungen vorfinden, zu denen sie arbeiten und existieren können, weil ihre Leistung als Regisseur, Autor und Produzent angemessen von den Verwertern honoriert wird oder ob die Betreiber medialer Plattformen für kleinen finanziellen Ausgleich an eine Verwertungsgesellschaft Filme zeigen dürfen", erläutert Autor Jörg Seewald.
+++ In den Standardverträgen zwischen den öffentlich-rechtlichen Anstalten und freien Produktionsfirmen ist fixiert, dass letztere das juristische Risiko tragen - obwohl die Sender für solche Fälle einen Apparat hochbezahlter Juristen zur Verfügung haben. Seit einigen Jahren treibt die Sektion Dokumentarfilm in der Produzentenallianz eine Änderung der Regelung voran. Was den NDR, MDR und RBB angeht, ist das nun gelungen. Die Sender haben sich, wie Ulrike Simon in ihrer Spiegel-Daily-Kolumne (€) schreibt, "dazu verpflichtet, Auftragsproduzenten investigativer Dokumentationen bei rechtlichen Auseinandersetzungen nicht mehr im Regen stehen zu lassen". Die Haltung der anderen sechs ARD-Anstalten darf man durchaus in der Nähe von schäbig ansiedeln, denn eine entsprechende Einigung ist mit ihnen nicht zustande gekommen. Eine kostenlose Zusammenfassung des Simon-Beitrags hat dwdl.de angefertigt.
+++ "Meine Idealvorstellung lautet, dass wir ein Unternehmen gestalten, in dem sich alle Mitarbeiter als große Familie fühlen", hat bekanntlich eine der Herrscherinnen des Funke-Reichs gerade gesagt (Altpapier von Donnerstag). Beim Gedanken ans Unternehmen eher nicht von familiären Gefühlen durchflutet sind derzeit die gerade gekündigten Bildredakteure der Abteilung Funke Foto Services. Aus einem Protestschreiben an die zuständigen Geschäftsführer zitiert das Verdi-Magazin M - Menschen Machen Medien Folgendes: "Es sei 'feige und rücksichtslos', dass die Funke-Verantwortlichen mit 13 gekündigten Mitarbeitern bislang nicht das Gespräch gesucht hätten, um ihnen die Gründe für die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zu erläutern. Der Vorgang ‚erschüttert aus Sicht der Belegschaft das Vertrauen in den Arbeitgeber nachhaltig.‘"
+++ "Seit Jahren recherchiert sie in radikalen Kreisen, reist in den Irak, nach Pakistan, in den Libanon - und trifft die gefährlichsten Männer der Welt. Mit ihren Artikeln enttarnte sie den IS-Henker Mohammed Emwazi, der als Jihadi John, maskiert mit schwarzer Sturmhaube, Geiseln vor laufender Kamera hingerichtet hat […]" - Spiegel Online porträtiert die auf das Thema IS spezialisierte Washington-Post-Reporterin Souad Mekhennet anlässlich ihres kürzlich erschienenen Buchs "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Jihad" (siehe Altpapier).
+++ Über die in einer Woche bei Sky startende Serie "Babylon Berlin" (siehe zuletzt Altpapier am Donnerstag) schreibt Lars Weisbrod in der neuen Ausgabe der Zeit, sie sei "streckenweise sogar atemberaubend". Man müsse sich Babylon Berlin als einen Ort vorstellen, "der changiert zwischen dem wirklichen, historischen Berlin vor dem Zivilisationsbruch und einem fantastischen, allegorischen Ort, der jenem Chicago ähnelt, das Bertolt Brecht gern als Kulisse für seine Parabelstücke genutzt hat".
+++ Apropos Brecht: Im Herbst 2018, also dann, wenn das Erste "Babylon Berlin" wiederholen darf, läuft ebd. auch Heinrich Breloers Dokudrama "Brecht". Breloer, schreibt Willi Winkler, der den Regisseur am Drehort Prag getroffen hat, in der SZ, habe "die öffentlich-rechtlichen Sender noch einmal auf die Probe stellen wollen, nämlich ob sie neben dem 'träumenden' auch noch das 'denkende Fernsehen' verkraften und damit ein Breloer-Denkstück, das sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt, und nicht den Vergangenheitskitsch von etwa 'Unsere Mütter, unsere Väter' bringt, der für Quote im Hauptabendprogramm sorgt".
+++ Nachtrag aus der SZ von Donnerstag: Wenn Ende der kommenden Woche der Wahlkampf in Österreich zuende geht, - gewählt wird am 15. Oktober - wird es bis dahin bei den dortigen Sendern 41 "TV-Duelle" gegeben haben.
+++ Und schließlich noch ein Ausblick auf übermorgen: Wenn die deutsche Fußball-Nationalelf in Kaiserslautern auf Aserbaidschan trifft, wird in der Gästemannschaft vermutlich ein Spieler stehen, der die Ermordung eines Journalisten in Auftrag gegeben hat. Siehe dazu ein Beitrag der ohnehin empfehlenswerten WDR-Sendung "Sport inside" vom vergangenen Sonntag.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.