Das Altpapier am 21. Januar 2020 Dinosaurier, die zu Panthern werden
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21. Januar 2020, 11:15 Uhr
Können sie den bösesten Konzernen der Welt widerstehen? Oder sollte ein neues "Drittes System" zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien ein Reservat bilden? Außerdem: der Tabubruch zur Gesichtserkennung in Echtzeit, Anstalts-Chefposten im Saarland. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
Laufend aktualisierte Trends sind aus der Mediennutzung kaum mehr wegzudenken, ob man es mag oder nicht. Der Veranstaltungs-Titel "Trends und Gestaltungsbedarfe" klingt dennoch nicht ungeheuer spannend. Die Veranstaltung gestern bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, um deren Untertitel es sich handelt, wurde es dann aber doch.
"Zukunft Medienpolitik" lautete ihr Obertitel. Nachdem Ellen Ueberschär aus dem Vorstand der Grünen-nahen Stiftung das Publikum mit ein paar klangvollen Diskurs-Bausteinen ("Selbstbefähigung zur Meinungsbildung", "mediales Alphabetentum") über die "nicht trotz, sondern wegen unserer Regulierungen qualitativ hochwertige Medienlandschaft in Deutschland" eingestimmt hatte, sprach nämlich Lutz Hachmeister, der sich eigentlich zurückziehende Grandsigneur der deutschen Medienanalyse.
Die Medienpolitik "hat keine Zukunft, sie hat ja nicht mal mehr eine Gegenwart", lautete seine erste These. Hachmeister stellte erste "Punkte für eine gesellschaftlich verantwortete, neue Medien- und Netzpolitik" vor, die das (seit kurzem nicht mehr von ihm geleitete) Institut für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) erarbeitet hat. Diese Punkte gibt's noch nicht online, viel Medienecho zur Veranstaltung auch noch nicht, außer unter dem immerhin sprachschönen Hashtag #medienboell2020 ein wenig auf Twitter. Da ich dort war, ein paar Thesen im Schnelldurchlauf...
Der Lebenszyklus der Medienpolitik reichte laut Hachmeister von den 1950er Jahren, als sie vor allem aus Filmpolitik bestand (da Kino damals als wichtigstes Medium galt), oder von 1971 (als die SPD in Reaktion auf die Proteste gegen den Springer-Verlag einen "Medienparteitag" veranstaltete) bis ins Jahr 2002. Mit dem Zusammenbruch des Kirch-Konzerns kam auch ihr Ende. Mit dem gut fünf Jahre später aufgekommenen "neuen Zentralmedium", dem Smartphone, sei die "senderfixierte" Medienpolitik nie in Berührung gekommen.
Um wieder eine zu bekommen, würden eine "Zusammenschau von Medien-, Netz- und Digitalpolitik" und mehr Sichtbarkeit des Politikfeldes gebraucht. Daran mangele es zurzeit schon deshalb, weil sie meistens Ministerpräsidenten im Nebenamt erledigen. "Wenn Sie gar keinen relevanten Ansprechpartner im politischen Raum haben, ist das frustrierend", sagte Hachmeister – eine Art Bilanz des IfM.
Die härtesten Worte bekamen Landesmedienanstalten und Landesrundfunkanstalten zu hören. Exemplarisch überflüssig sei die deutsche Jugendschutzbürokratie. Würde sie abgeschafft, "es würde sich nichts ändern". Den Medienwächtern mit dem Medienstaatsvertrag jetzt auch noch die Kontrolle über Algorithmen, Facebook und Google zuzusprechen, sei "komplett lächerlich". Da zitierte Hachmeister gerne noch mal den Wunsch der Bremer Medienanstalts-Chefin (aus dem epd medien-Interview), dass "Google, Amazon und Facebook ... weiterhin 14 Player lobbyieren müssen".
Was die Öffentlich-Rechtlichen angeht: "Es gibt keinen zwingenden verfassungsrechtlichen Zusammenhang zwischen dem öffentlich-rechtlichen Gedanken und der etablierten Senderstruktur" – also dem Rundfunkbeitrag einerseits und ARD, ZDF und ihren Senderfamilien andererseits. Hachmeister forderte einen "wissenschaftlich fundierten Stresstest für das bestehende öffentlich-rechtliche System" und einen Fonds von etwa 400 Millionen Euro zur direkten Förderung von Autoren, Produzenten und Kreativen (zu denen auch er selbst zählt). Das wäre dann ein neues "Drittes System" zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien...
Werden wir zutiefst beneidet?
Würden die Vertreter der beiden etablierten Systeme so was begrüßen? Nicht so, zeigte schön die folgende Podiumsdiskussion. Da demonstierten RBB-Intendantin Patricia Schlesinger und Hans Demmel vom Privatsender-Verband Vaunet sowie die grüne Medienpolitkerin Tabea Rößner, dass sie sich in zahllosen Detailfragen wie eh und je gründlich-langwierig streiten können, im Großen und Ganzen aber zufrieden sind. Der Schlesinger-Einschätzung, Deutschland habe ein Medien-System, "um das uns andere Länder zutiefst beneiden", stimmte Demmel komplett zu. "Die Medienpolitik ist nicht mutig genug", beteuerte Rößner zwar. Ihre Anregungen, doch lieber "im gesellschaftlichen Diskurs" und mit Hilfe von Expertenkommissionen zu diskutieren, klangen aber nicht so, als ob sie schon in diesem Jahrzehnt etwas daran ändern könnten.
Immerhin drückte Schlesinger verbal aufs Tempo. Sie machte interessante Andeutungen über laufende Intendanten-Gespräche mit der Bundesregierung über eine Anschubfinanzierung der Ulrich Wilhelm'schen Plattform-Idee "im Milliardenbereich". Und hatte die wohl attraktivste Öffentlich-Rechtlichen-Metapher seit langem mitgebracht: "Die Öffentlich-Rechtlichen sind Dinosaurier und werden nicht schnell zu Panthern", aber sie seien auf dem Weg. Wenn es ARD und ZDF gelänge, dieses Narrativ memetisch umzusetzen – das jüngste Publikum wäre bereits gepackt, noch bevor es vom Kika zu den Plattformen mit funk.net-Angeboten umschaltet!
Damit rasch hinauf zu den weltgrößen Medienkonzernen, deren gigantische Plattformen und geheime Algorithmen den Takt der Medienwelt vorgeben.
Die bösesten Digitalkonzerne der Welt (und noch ein Tabubruch)
Amazon vor Facebook und Google-Alphabet, Apple Kopf an Kopf mit Microsoft, das kleine Twitter noch vor der chinesischen Tiktok-Mutter Bytedance, die wiederum den eigentlich größeren Konzern Tencent aus der eigenen Heimat distanziert – was mag das für eine Liste sein? Die wertvollsten oder teuersten Konzerne der Welt? Die innova- oder disruptivsten? Die meistruntergeladenen Apps?
Nein, die Spitzenreiter der "30 most dangerous companies" in slate.coms "The Evil List" sind's! Eine Übersetzung in Auswahl bietet der österreichische Standard. Erstaunlich ist einiges daran, etwas dass zwischen den Genannten mit Exxon ein hardcore-analog-fossiler Konzern auftaucht. Und ist es positiv, dass europäische Angebote nur Nebenrollen spielen (bzw., wenn ich es richtig sehe, außer dem tschechischen mspy.com auf Platz 30 gar keines dabei ist)? Eine gute Diskussionsanregung ist die Liste, und allemal sinnvoller als die doofen Reichste-Rankings, die private wie öffentlich-rechtliche deutsche Nachrichtenmedien immer so gern aus USA übernehmen.
Noch nicht enthalten, wohl weil "zuvor praktisch unbekannt" (heise.de) bzw. "bisher im Geheimen operierend" (Tsp.), ist Clearview AI. Dieses Startup aus New York ist erst seit einer New York Times-Investigation vom Wochenende größer bekannt, doch tagesaktuell stark in deutschsprachigen Medien vertreten. Denn es handelt sich um einen "gesellschaftlichen Tabubruch" (Barbara Wimmer, futurezone.at). "Das Tabu, dem sich die Branche bisher unterworfen hat, hiermit durchbrochen" erklärt Mathias Müller von Blumencron im Tagesspiegel. Clearviews Angebot könne "unsere Gesellschaft sprengen". Worum geht's? Um eine "Gesichtserkennungs-App, die anhand eines einzigen Fotos zahlreiche weitere Bilder über dich findet", und das in Echtzeit (futurezone.at).
Wobei die App auf milliardenfach etablierte Angebote bereits genannter böser Konzerne aufsetzt und schon rund drei Milliarden Bilder aus "Social-Media-Diensten wie Facebook, Twitter, YouTube, Venmo und Millionen von Websites" saugte bzw. scrapete, wie der Fachanglizismus lautet. "The End [of] Privacy as We Know It", titelt die NYT. Einen auf andere Weise eindringlichen Spin, davor zu warnen, hat das erfolgreiche Portal zeit.de auf Twitter gefunden: "Können wir noch bedenkenlos #Selfies posten?", lautet er.
Kann Europa helfen? "Der offizielle Plan (Ursula, Anm. d. Autors) von der Leyens für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz" werde in Kürze bekannt gegeben und könnte womöglich wenigstens vorläufig "den Einsatz automatisierter Gesichtserkennung im öffentlichen Raum ... verbieten". Das berichtete netzpolitik.orgs Brüssel-Korrespondent Alexander Fanta mit auch sonst interessanten Einblicken ins Mediengebaren der EU-Kommission ("...leakt häufig geplante Schritte an Medien in Brüssel, um die öffentliche Reaktion darauf zu testen").
Bei der eingangs erwähnten Böll-Stiftungs-Tagung wurde nicht nur einmal Hoffnung darauf gesetzt, dass eine kraftvoll agierende EU mit global operierenden Konzernen besser umgehen könne als die 14 Landesmedienanstalten, die diese Aufgabe für Deutschland wahrnehmen.
Landesmedienanstalten bleiben Landesmedienanstalten
Daher rasch noch ein Blick in diese Anstalten. "Am Mittwoch könnte es spannend werden in Saarbrücken" schrieb ich vor acht Tagen hier. Wurde es aber nicht: Zur neuen Direktorin der kleinen Landesmedienanstalt Saarland hat die Groko im Saarbrücker Landtag die CDU-Kandidatin Ruth Meyer gewählt, obwohl das dem Anschein der Staatsferne alles andere als gut tut.
Mit dem Argument, dass "der sensible Bereich der Medienaufsicht ... aus parteipolitischen Erwägungen herausgehalten werden" solle, hatte die Linke vergeblich versucht, das zu verhindern, berichtete die Saarbrücker Zeitung. Außerdem berichtete der Saarländischen Rundfunk (inklusive eines Videokommentars, in dem Janek Böffel so kraftvoll gestikuliert, dass viele Youtuber ihn zutiefst beneiden dürften). Die hier wiederholt erwähnten Hintergründe – nicht mal den selbst erlassenen Gesetzen genügende Absprachen zwischen Saar-CDU und Saar-SPD über die Chefposten-Vergabe bei der lokaler Landesmedien- und der Landesrundfunkanstalt – hatte zuerst die Medienkorrespondenz aufgedröselt.
Vielleicht immerhin wird es noch spannend. Der unterlegene Bewerber Jörg Ukrow kündigte frühzeitig an, vors Verwaltungsgericht des Saarlandes zu gehen (Saarbrücker). Genau wie vor wenigen Jahren im benachbarten Rheinland-Pfalz nehmen die Anstalten-Chefposten-Angelegenheiten ihren trägen Lauf durch die Instanzen, und die alltägliche Arbeit (falls es noch oder demnächst wieder sinnvolle gibt) muss warten.
Andererseits: Was auch immer man den Medienanstalten vorwerfen kann – dass sie nicht alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen würden, eine möglichst große Öffentlichkeit auf die vielfältigen problematischen Aspekte des provinziell-vorgestrig-politikgelenkten Medien-Föderalismus aufmerksam zu machen, das eigentlich nicht.
Altpapierkorb (Zwei Pferde zugleich reiten, Tony Hall, Leistungsschutzrecht, Thüringen sollte Tübingen nicht egal sein, "Comedy for Future" )
+++ Außer dem mit Dinos und Panthern hatte RBB-Intendantin Patricia Schlesinger noch ein Tier-Gleichnis zu den Grünen mitgebracht, nun um die Nöte aktuell amtierender Intendanten zu illustrieren. Die Aussage "Wir müssen im Moment zwei Pferde reiten", das lineare und das digitale, und beide Pferde fressen, stamme von Tony Hall, dem BBC-Generaldirektor – das aber nur noch bis zum Sommer! Dass Hall für seine emotionale Rücktrittsankündigung ("Wenn ich meinem Herzen folgte, würde ich niemals gehen wollen", übersetzt spiegel.de) vom Guardian "Tony Hall gave BBC stability but failed to see digital crisis ahead" bescheinigt bekommt, müsste deutschen IntendantInnen, die ähnlich Reit-Kunststücke vollführen, also zu denken geben.
+++ Das deutsche Leistungsschutzrecht war einer der wenigen Versuche, auf Bundesregierungs-Ebene Medienpolitik im Gewand von Digitalpolitik zu machen, und ist längst tot. Doch ein EU-weites ähnliches Recht ist beschlossen und muss vom Bundestag umgesetzt. Wird es zu Vorschaubildern "nur noch im Briefmarkenformat" führen (SZ-Medienseite)? Kritik am ersten Entwurf kommt von der erwähnten Tabea Rößner.
+++ "In Thüringen erscheinen nun drei Tageszeitungen, in denen im Großen und Ganzen dasselbe drinsteht und die sich nur in der Farbe ihres Titels unterscheiden", kolumniert Anne Fromm in der taz. "Das mag Ihnen in Tübingen oder Oldenburg egal sein", sollte es aber nicht.
+++ Was den Verkauf noch einer weiteren Zeitung der extrem ehemaligen DuMont-Verlagsgruppe angeht, so liegt ein neuer "Brandbrief" der Belegschaft vor (meedia.de).
+++ Und wiederum in der taz berichtet Wilfried Urbe ausführlich über "grünes Storytelling" im deutschen Fernsehen. In der ProSiebenSat.1-Sendung "Comedy for Future" sollen sich demnächst "zahlreiche bekannte deutsche Comedians, darunter beispielsweise Atze Schröder oder Michael Mittermeier, mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen befassen".
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.
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