Das Altpapier am 6. November 2019 Ihr! Seid! Keine! Analyseentitäten!
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06. November 2019, 11:51 Uhr
Rezo und Angela Merkel bekunden im Gleichklang, die Meinungsfreiheits- sei eine Phantomdebatte. Die neuen Eigner der Berliner Zeitung denken über eine "Wende zum faktenorientierten Journalismus" nach. Und ein neues Debattenportal stellt sich vor. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Inhalt des Artikels:
- Medienkritik aus der Halbdistanz
- Die Berliner Neuverleger und ihre Pläne
- Ein größeres Rad wird aber auch gedreht:
- "Von Menschen für Menschen"
- Altpapierkorb (di Lorenzo gratuliert FAZ, Merkels Meinungsfreiheitsbeitrag von 2010, "Goldene Kartoffel", Champions League, "Cicero", Gender Pay Gap bei der BBC)
Das ist ein Ding: Die Bundeskanzlerin hat ein Interview gegeben – und die Interviewer sind nicht in der CDU. Wir halten das hier lieber mal ausdrücklich und in aller Form fest; man weiß derzeit schließlich nie, welche Sitten so einreißen und nie wieder weggehen. Neulich zum Beispiel saß der Kanzlerin der Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus als Gesprächspartner gegenüber und freute sich über "das Interview hier", das er demütigst mit der "lieben Angela" führen durfte. (Altpapier). Diesmal aber, und das sind doch mal gute Nachrichten, kamen die Interviewer tatsächlich aus einer journalistischen Redaktion, der des Spiegel.
Worum geht es im Interview, das man der Konstellation wegen tatsächlich Interview nennen kann, Herr Brinkhaus?
Das meiste, was besprochen wird, ist für eine Medienkolumne wie diese zweitrangig; aber das Reiz- und Trendthema "Meinungsfreiheit" bekommt auch seine fünf Minuten. Die Zusammenfassung des Gesprächs beginnt gleich mit dem schönen Satz: "Kanzlerin Angela Merkel wundert sich über die aktuelle Meinungsfreiheit-Debatte." Da scheint es den Menschen also tatsächlich wie den Leuten zu gehen. Merkel setzt im Wortlaut auch diesen Aufräumer: "(D)ie Debatte läuft ja so, dass ein sogenannter Mainstream definiert wird, der angeblich der Meinungsfreiheit Grenzen setzt. Doch das stimmt einfach nicht." Ja nun.
Zu den leisen Pointen des Verlaufs der Debatte gehört, dass Rezo, der vor der Europawahl mit seinem Youtube-Video (Altpapier) die CDU zwar nicht zer-, aber doch nachhaltig verstört hat, genau 24 Minuten nach der Veröffentlichung des Merkel-Interviews am Dienstagmittag in ein ganz ähnliches Horn stieß.
Da ist also die Chefin von Deutschland, CDU, und der junge Mann, der die CDU zerstört hat – und beide sagen zum Thema Meinungsfreiheit im Kern Ähnliches, nämlich dass es sich um eine Phantomdiskussion handle. Amüsanter Gleichklang. Andererseits, wenn beide sagen würden, dass die Erde keine Scheibe ist, wär’s auch ein Gleichklang und trotzdem richtig.
Medienkritik aus der Halbdistanz
Jedenfalls, Rezo:
"In diesem Text werde ich zeigen, dass Meinungsfreiheit für Rechtsextreme kein echter Wert ist, den es zu verteidigen gilt, sondern lediglich ein Werkzeug zur Erreichung der eigenen ideologischen Ziele",
schreibt er in einer mit seinem Künstlernamen gekennzeichneten Kolumne, die er seit Kurzem bei Zeit Online befüllt. Die Sprache ist eigenwillig bis besonders, aber die Eigenwilligkeit ist auch der Markenkern. Und so ist man ein wenig hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, seinen Text mit der Wurzelbürste zu redigieren ("Meine Meinung ist bei der CDU bei Weitem nicht beliebt"), und dem sicher sympathischeren, einer neuen Stimme ihren Sound zu lassen.
Interessant an der Figur Rezo scheint mir jedenfalls, dass er hier aus der Halbdistanz – Zitat: "Liebe Journalistenkollegen (lol, ich darf das jetzt sagen)" – eine grundsätzliche und grundsätzlich auch relevante Medienkritik betreibt, die auf den sog. klassischen Medienseiten eigentlich kaum stattfindet, und sie durch den Publikationsort als bullshitfrei beglaubigen lässt:
"Ich weiß, dass ihr manchmal gern eure Beeinflusserverantwortung abschalten und einfach mehr über die Themen reden wollt, die ihr akademisch spannend findet. Zum Beispiel, ob oder inwiefern die Störung von Univorträgen demokratisch ist. Ich weiß auch, dass ihr zu einem Thema, das aktuell viele Klicks bringt, auch gern eine ganze Reihe von Artikeln, Beiträgen und Titelseiten machen wollt. Versteh ich total. Aber ihr habt nun mal diese Beeinflusserverantwortung, und zwar in allem, was ihr tut."
Ob das alles nun irre originell ist oder doch eher gebrauchte Gedanken, die zur Zielgruppenansprache umformuliert sind – ach, wer weiß. Zumindest die Ansage an Journalisten, die danach folgt, müsste man sich aber schon des Sounds wegen auf ein Deckchen häkeln: "Ihr seid keine Analyseentitäten, die ohne Wechselwirkung losgelöst von Raum und Zeit auf das Geschehen blicken"!
Unter den Sätzen des gestrigen Tages ist der jedenfalls vorne dabei.
Die Berliner Neuverleger und ihre Pläne
Nochn Interview: In der Süddeutschen Zeitung (gedruckte Medienseite) stehen Silke und Holger Friedrich Rede und Antwort, die neuen Eigner des Berliner Verlags (Altpapier vom 18. September, zuletzt Altpapierkorb vom Dienstag), und stellen ihre Pläne vor.
Dass sie genügend Eigenkapital hätten, "um zehn Jahre durchzuhalten" – das ist jedenfalls erst einmal ein Wort. Und Entwicklungen vielleicht zurückzudrehen, die den Medien des Berliner Verlags sicher nicht geholfen haben, um ein erkennbares Profil zu behalten, ist auch nicht unbedingt eine schlechte Idee. Zur Kooperation mit dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland, das zum Madsack-Verlag und DuMont gehört und zahlreiche Regionalzeitungen beliefert" (SZ), sagt Holger Friedrich etwa:
"Wie diese Zusammenarbeit weiterhin aussieht, werden wir noch überlegen. Generell muss es ja nicht sein, dass von Berchtesgaden bis Flensburg eine Redaktion aus Hannover entscheidet, was über Berlin geschrieben wird."
Ein größeres Rad wird aber auch gedreht:
"Den Verlag neu ausrichten, 'digital first' etablieren – das werden unsere ersten Schritte sein. Darüber hinaus sollte sich der Diskurs verändern, was auch ein Grund für unseren Einstieg in den Berliner Verlag ist. Es gibt zu viel Meinung und zu wenig Fakten. Informationen werden verkürzt, was zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Die Frage ist, ob es eine weitere Verrohung und Meinungshysterie gibt oder man eine Wende zum faktenorientierten Journalismus gestaltet",
sagt Silke Friedrich, und Kritik am allgemeinen Herumgemeine zu allem und jedem hat sicher ihre Berechtigung. Aber man würde sie natürlich an der Stelle gerne noch fragen, erstens, was für ein Bild von Journalismus sie denn sonst noch hat: Wende zum faktenorientierten Journalismus? Als gäb’s nicht… irgendwo… manchmal… vielleicht… schon welchen. Und zweitens würde man dann auch gleich eigentlich gerne noch fragen, welche Analyseentitäten denn jene allgemein anerkannten Fakten zur Verfügung stellen könnten, die die "Verrohung und Meinungshysterie" verhindern würden. Man frage nur mal die "Tagesschau", was los ist, wenn sie die einen Fakten in die Sendung nimmt und andere nicht.
Wirklich interessant wäre der Versuch, eine Wende zu einem Journalismus zu gestalten, der auch im aktuellen Schnellschnellbetrieb so wenig bullshitgetrieben wie möglich ist. Das hängt aber nicht – jedenfalls nicht allein und auch nicht vornehmlich – an der Faktenorientierung.
"Von Menschen für Menschen"
Nochn neues Portal stellt Meedia vor: ein Debattenportal, wie es genannt wird, namens Buzzard. Und auch dessen Macher haben der wahrgenommenen Polarisierung offensichtlich den Kampf angesagt:
"Man sollte mehrere Medien im Vergleich lesen. Nur ist das eben oft zu zeitaufwändig. Zudem haben soziale Medien ein Vakuum hinterlassen. Algorithmen entscheiden, was uns im Newsfeed angezeigt wird. Medienperspektiven werden nach Präferenzen sortiert. Das macht es uns schwer regelmäßig auf gut begründeten Meinungen zu stoßen, die unserer eigenen Meinung widersprechen. Wenn man anderen Meinungen begegnet, dann oft nur den besonders lauten, den extremen."
Das will man nun also anders machen. Und sogar besser:
"Im neuen Online-Medium und der neuen News-App, die 2020 starten, wird eine Tagesredaktion aus fünf Journalistinnen und Journalisten Debatten und Perspektiven kuratieren. Zusätzlich setzen wir auf die Crowd. Leser können bei uns mitbestimmen über Themensetzung und Perspektivenwahl, Auswahlkriterien und Recherchen und sich einbringen. In Zeiten, in denen oft Algorithmen auswählen, welche Inhalte wir im Newsfeed sehen, setzen wir mit 'Buzzard' in Zukunft bewusst auf Empfehlungen von Menschen für Menschen."
Das klingt im Ansatz ein wenig wie piqd. Was aber ja nichts Schlechtes wäre. Und noch mehr Mediennutzungsvorschläge "in Zeiten des politischen Auseinanderdriftens" dann im…
Altpapierkorb (di Lorenzo gratuliert FAZ, Merkels Meinungsfreiheitsbeitrag von 2010, "Goldene Kartoffel", Champions League, "Cicero", Gender Pay Gap bei der BBC)
+++ Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo gratuliert der FAZ in eben dieser Zeitung zum 70. Geburtstag – ein Text, der die Themensammlung des Tages abrundet und ergänzt: "Sie haben das unsinnige Gerede widerlegt, dass es in Zeiten des politischen Auseinanderdriftens und der Allmacht immer gleicher Themen keinen Raum mehr gebe für eine vernünftige konservative Position."
+++ Wer sich auf den Stand bringen möchte, was die Kanzlerin vor neun Jahren an der damaligen Meinungsfreiheits-Debatte wunderte, kann über das Carta-Archiv einsteigen. Es ging um den Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin in jenen Tagen, dessen Freiheit, sagen zu dürfen, was er wolle, unter anderem von Bild mit der berühmt-beknackten Zeile "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" verteidigt wurde. Merkel kannte auch damals schon ihre Pappkameraden und fragte in einer Rede, ob die fünf gesellschaftspolitischen Unternehmensgrundsätze "eines großen deutschen Verlags", "unter anderem zur Förderung der europäischen Einigung, zur Sicherung des Existenzrechts Israels und zur Verteidigung der Sozialen Marktwirtschaft", nicht eigentlich auch ein Problem für die Meinungsfreiheit wären, wenn jeder immer alles und in jeder Funktion sagen sollen dürfe. Und? "Natürlich nicht, vermute ich."
+++ Michael Hanfeld ärgert sich in der FAZ über die Verleihung des Negativpreises "Goldene Kartoffel" (Altpapier) an die Polittalks von ARD und ZDF. Andere Reaktionen gab es am Montag an dieser Stelle.
+++ Arno Frank hat für Übermediens Zeitschriften-Kolumne (Abo) den Cicero gelesen: "'Cicero' taugt vielleicht zur Selbstvergewisserung des Rechtskonservativen, der’s allzu genau nicht wissen will. Ein reaktionärer Gottseibeiuns ist er aber auch nicht. Dem Linken dient 'Cicero' nicht einmal zur Feindbeobachtung, dazu platziert es sich zu gediegen in der Mitte."
+++ Dass das Champions-League-Finale ab 2022 wieder im Free-TV übertragen wird, meldet nicht nur der Tagesspiegel, der aber vielleicht am ausführlichsten.
+++ Die Moderatorin Samira Ahmed hat die BBC verklagt: Sie will so viel verdienen wie ein Kollege. Die SZ hat die Hintergründe. Die taz-Geschichte zum Thema war am Montag hier schon verlinkt.
Neues Altpapier kommt am Donnerstag.
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