Das Altpapier am 13. September 2017 Superstürme, Supersiege, Superpräsidenten

Heute auf der Agenda: "Irma" und die Folgen der punktuellen Dauerstimulation; eine US-Digitalagentur und die jüngste Anti-Merkel-Kampagne; das rückständige Frauenbild der Frauenzeitschriften. Ein Altpapier von René Martens.

Die Berichterstattung über den Hurrikan "Irma" (siehe Altpapier von Dienstag) hat, wie es oft der Fall ist, wenn es um Katastrophen geht, nicht bloß Fragen aufgeworfen, die unmittelbar den journalistischen Umgang mit eben diesen Katastrophen betreffen, sondern auch die generellen Mechanismen der Branche. Imre Grimm fragt sich in der Hannoverschen Allgemeinen und der Leipziger Volkszeitung zum Beispiel,

"warum die globale Medienmaschine erst so richtig in Wallung geriet, als es in Florida zu regnen begann - fünf Tage, nachdem ‚Irma' in der Karibik schwerste Verwüstungen angerichtet hatte".

Diesen Aspekt hatte Anfang des Monats unter anderen Vorzeichen bereits die SZ aufgegriffen, als es um Hochwasser in Südasien und Texas ging ("Zynisch gesprochen ist es doch so: Es müssen erst Hunderte Bauern in Bangladesch ertrinken, bevor ihnen ähnliche Aufmerksamkeit zukommt wie einem einzigen Opfer in der westlichen Welt"). In diesem Sinne fragt Grimm nun:

"Interessiert sich der Westen nur für den Westen?"

Generell konstatiert er:

"Es ist ein Teufelskreis. Denn im überhitzten Nachrichtenwesen hat ein mittelgroßes Ereignis kaum noch Chancen, überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Es ist das Zeitalter der Superlative. Superstürme. Supersiege. Superpräsidenten. Und so wird im Sport ein Trainerhalbsatz zum 'Riesen-Zoff' und in der Politik ein Sachkonflikt zum 'Koalitions-Donnerwetter'."

Die "punktuelle Dauerstimulation" bringe es mit sich, dass man den "Reizpegel" immer weiter steigern müsse, "damit eine Story überhaupt noch auf Gehör stößt". Was natürlich die irgendwie philosophische Frage aufwirft, ob ein Endpunkt dieser Entwicklung vorstellbar ist und im journalistischen Milieu dann weiträumig die Vernunft ausbricht.


Negative Campaigning

Mister Vincent Harris, den Gründer der Agentur Harris Media, darf man, um mal kurz einen Ausflug ins Umgangssprachliche zu unternehmen, wohl als Schweinepriester vor dem Herrn bezeichnen. Oder natürlich auch als "US-Digitalguru", wie es der Tagesspiegel kürzlich glaubte, tun zu müssen. Warum wir überhaupt über Harris reden müssen?

"Der Rechtskonservative Vincent Harris (kümmert) sich weltweit um die Internet-Kampagnen von rechten Populisten (…). Im US-Wahlkampf hat er Donald Trump beraten. In Großbritannien unterstützte Harris Media die EU-feindliche Ukip-Partei von Nigel Farage. Stets provokant. Stets aggressiv. Jetzt wird’s schmutzig - auch in Deutschland",   

berichtet Correctiv. Letzteres bezieht sich darauf, dass Harris und seine Spießgesellen nun für die AfD im Einsatz sind. Jedenfalls sprechen

"mehrere Indizien (…) dafür, dass die jüngste Anti-Merkel-Kampagne die erste gemeinsame Großoffensive von AfD und Harris Media ist."

Die erwähnte Aktion gegen Angela Merkel, bei der diese als "Eidbrecherin" bezeichnet wird, fällt in die Kategorie des "negative Campaigning", es handelt sich dabei, so die Correctiv-Autoren, um "gezielte Schmutzkampagnen gegen den politischen Gegner". Im Kern also nichts Neues, aber etwas, was Harris und Co. offenbar auf einem neuen, tja, Niveau zu fabrizieren in der Lage sind.

Um beim Correctiv und beim Thema AfD zu bleiben: Die Kollegen haben den Soziologen Andreas Kemper interviewt, es geht unter anderem um eine von der Welt am Sonntag publik gemachte, mutmaßlich von Alice Weidel verfasste Mail (siehe Altpapier von Montag):

"Es kann sein, dass Weidel die Urheberin ist. Aber es ist auch anzumerken, dass der Inhalt dieser vermeintlichen E-Mail normaler Sprachgebrauch in der AfD ist."

Damit benennt Kemper eine generelle Schwäche in der Berichterstattung über die AfD: Dass ständig irgendeine Äußerung aus der Partei als Abweichung von der vermeintlichen Normalität skandalisiert wird. Die Interviewer von Correctiv erwähnen dann noch "den Vorwurf, der derzeit in rechten Kreisen im Netz kursiert, dass Alice Weidel von FDP-Chef Christian Lindner und seiner Frau Dagmar Rosenfeld (sic!), stellvertretende Chefredakteurin von Welt/N24, diffamiert würde". Kemper dazu:

"Dieser Vorwurf einer lancierten Kampagne wird ad absurdum geführt, da die Welt sich schützend vor (Björn) Höcke gestellt hat, und das jahrelang. Ich glaube nicht, dass die Welt tatsächlich eine starke Haltung gegen die AfD hat."

Wobei Letzteres vielleicht etwas besser zu verstehen ist im Zusammenhang mit Kempers Einschätzung, dass der heutige Höcke-Medienberater Günter Lachmann einst "die AfD 'groß' geschrieben hat", als er noch bei der Welt zugange war.

Weiterhin ein Thema: der "Experte" von der AfD, den eine verwirrte Filmemacherseele für ihr ZDFinfo-Dokumentatiönchen "Radikale von links" rekrutiert hat, ohne im Film die Parteizugehörigkeit dieses Gentlemans zu erwähnen (siehe Altpapier von Dienstag). Gegenüber der taz äußert sich zu dem Thema DJV-Sprecher Hendrik Zörner. Und bei Spiegel Online ist zu erfahren, dass ZDFinfo den hochgradig unseriösen Film keineswegs tief unter dem Lerchenberg zu vergraben gedenkt, sondern am Sonntag noch einmal zeigen will.

Gibt es im Zusammenhang mit dem Stichwort AfD auch was Positives zu vermelden? Ja, in Hamburg hat sich das Bündnis "Frauen* gegen die AfD" (#FgdAfD) formiert. Bis zur Bundestagswahl wollen die Aktivistinnen auf Facebook, Twitter und YouTube Videoclips veröffentlichen, in denen sich Passanten und Kultur- und Mediennischenprominente zur frauenfeindlichen Politik der AfD äußern. meedia.de und Szene Hamburg stellen das Bündnis vor.


Zwischen Sofakissen und Abendsonne

Auf vielleicht etwas andere Art rückständig als das Frauenbild der AfD ist das Frauenbild der gedruckten Frauenmagazine. Silke Burmester hat dies für die SZ bei einem Blick auf die "aktuelle Zeitschriften-Herbstkollektion" festgestellt:

"Nur die Frau, die sich selbst liebt und schätzt und die sehr zufrieden mit sich ist, kann die Welt retten. Was, so suggerieren die Magazine, ohne die Probleme hinter Schlagworten wie 'Umwelt' und 'Armut' aufzulösen, unbedingt nötig ist. Im Ergebnis werden Frauen zwar als die Zukunft der Menschheit verkauft, insgesamt aber als eine sehr bedürftige, fast orientierungslose Menge dargestellt, die dringend schöne Ermunterungsgeschichten braucht, um einen Weg aus dem Kellergewölbe der eigenen Möglichkeiten hin zum Licht von Erfolg und Glück gewiesen zu bekommen."

Die Rückständigkeit kommt auch noch anderweitig zum Ausdruck:

"Warum sehen wir so gut wie keine Deutschen mit Migrationshintergrund in den Magazinen? Warum keine anstrengenden, fordernden Persönlichkeiten? Warum stellt der Verlag Gruner + Jahr, der sich beim Erscheinen des F Mag so vollmundig für seine 'Innovationsstrategie' lobte, nach nur einer Ausgabe das inhaltsgetriebene, feministische Heft für junge Frauen wieder ein, hält aber 'das erste Wohn- und Fashion-Magazin' Couch oder Hygge hoch, Produkte also, die den potenziellen Aufbruch von Frauen zwischen Sofakissen und Abendsonne ersticken?"

"Inhaltsgetrieben" ist ein gutes Stichwort. Denn: Zumindest in den großen Medienhäusern sind - auch jenseits des Frauensegments - "inhaltsgetriebene" Zeitschriftengründungen schon lange die ganz, ganz große Ausnahme. Getrieben sind sie vielmehr von Ideen, die am Marketing-Reißbrett entstehen - was, um hier mal ganz kurz das große Fass aufzumachen, auch eine Facette jenes Phänomens ist, das wir Medienkrise nennen.


Altpapierkorb (Umfragen, klagender tazler, "falsche Siebziger")

+++ Das ZDF hat den Vertrag mit Claus "Rettet die Wahrheit!" Kleber "bis Juli 2021 verlängert", berichtet die Medienkorrespondenz. Wie viel die Mainzer ihrem Star dafür bezahlen, sagen sie zwar nicht. MK-Redakteur Volker Nünning weiß aber: "Das Jahreshonorar von Claus Kleber für die 'Heute-Journal'-Moderation und die Dokumentationen wird auf einen mittleren sechsstelligen Gesamtbetrag geschätzt."

+++ "Wenn Meinungsforscher die falschen Wörter verwenden", lautet die Überschrift eines Beitrags, den Elisabeth Wehling, "der Shootingstar des linguistischen Framing-Erklärens" (Altpapier) für Deutschlandfunk Kultur verfasst hat. Wehling schreibt: "Umfragen nutzen oft (…) Wörter (…) die im Gehirn des Antwortenden ideologisch selektive Deutungsmuster aufrufen. Wörter, die damit seine Positionierung zu einem Thema entscheidend mit vorgeben. Befragt man Bürger zur Migrationsbewegung, so sprechen sie sich eher dafür aus - spricht man sie aber auf die Migrationswelle an, sind sie stärker dagegen. Und zwar bei identischer Faktenlage! Genau diesen Effekt zeigen etliche experimentelle Studien."

+++ Die FAZ bespricht auf ihrer Literatur-und-Sachbuch-Seite "Im Bann der Plattformen", das aktuelle Buch des Medientheoretikers Geert Lovink. Axel Weidemann meint: "Die Perspektiven (…), die er mit seinem Wissen über die letzten dreißig Jahre des Internets aufzeigt, haben das Potential, unsere Sichtweise nachhaltig zu erschüttern: Es scheint bisweilen, dass ein großer Teil der privilegierten Nutzer - darunter Intellektuelle, Politiker und Journalisten - Konzerne wie Facebook und deren eingezäunte Gärten als unrevidierbar akzeptiert hat. Der Autor erinnert daran, dass selbst vielversprechende Plattformen über Nacht verwaisten, nachdem ein vermeintlich attraktiverer Garten ausgewiesen wurde. Einerseits ist es ein beinahe zynischer Spaß, sich vorzustellen, was passierte, wenn Facebook die Nutzer davonliefen. Andererseits ist es beängstigend, sich auszumalen, welche Anstrengungen der Konzern unternimmt, um dies zu verhindern." Siehe dazu auch eine vor rund zwei Monaten erschienene Rezension bei netzpolitik.org.

+++ "Tagging false news stories as ‚disputed by third party fact-checkers' has only a small impact on whether readers perceive their headlines as true" - das ist die wesentliche Erkenntnis einer Studie der Yale University zur Kooperation von Facebook mit Factchecking-Organisationen. Politico hat die Studie gelesen.

+++ Warum geht der taz-Redakteur Daniel Bax juristisch gegen Ben Weinthal, Deutschland-Korrespondent der Jerusalem Post, vor? Weil "Herr Weinthal mich auf Twitter wiederholt als 'Judenreferat' der taz bezeichnet hat", sagt Bax gegenüber dem Tagesspiegel. Siehe in der Angelegenheit auch Weinthals am vergangenen Sonntag im Tagesspiegel in der Rubrik "Zu meinem Ärger" veröffentlichte Einschätzungen: "Journalisten sollten nicht dünnhäutig sein, auch nicht bei harter Kritik", findet er.

+++ Nazis gegen Journalisten: Jan-Henrik Wiebe, Redakteur von Funkes thüringen24.de, berichtet sowohl ebenda als auch bei Twitter, dass er bei einer Demo in Jena angegriffen worden sei.

+++ Neue Geschäftsideen von Unternehmen, die man lange Zeit Verlage nannte: Von Madsack können Sie sich jetzt auch chauffieren lassen, jedenfalls in Leipzig, denn der Verlag der Leipziger Volkszeitung hat die Mehrheit an dem Taxiunternehmen CleverShuttle Leipzig übernommen. Flurfunk Dresden berichtet.

+++ Allenthalben für gut befunden wird der ARD-Spielfilm "Falsche Siebziger", eine "fröhlich unmoralische (…) Rumpelkomödie" in der drei Landeier "in eher prekären Verhältnissen" (Oliver Jungen/FAZ, derzeit nicht frei online) Doppelgänger ihrer verstorbenen Eltern engagieren, um weiterhin deren "saftigen, in den fetten Jahren der Bundesrepublik angesammelten Altersbezügen (…) zu zehren". Stefan Fischer (SZ) schreibt: "Regisseur Matthias Kiefersauer, der das bayerische Komödienhandwerk unter anderem bei Franz Xaver Bogner (‚München 7', ‚Irgendwie und Sowieso') gelernt hat, (beschwört) ein Chaos herauf, durch das er fortan mit seinem liebevoll ausgewählten Ensemble tobt. Knappe Sätze, mitunter nur halb und oder auch gar nicht ausgesprochen, prägen den lakonischen Humor." Und Heike Hupertz (epd medien): "Die hinterfotzige 'Landlust'-Bildgestaltung von Thomas Etzold und die falsche Heimatmusik von Rainer Bartesch vollenden das subversive Werk."

+++ Die TV-Dokumentation zu dieweltherrschaft.net/de, ein von BR, Arte, ORF und SRF betriebenes Aufklärungsprojekt in Sachen Verschwörungstheorien, ist heute im BR zu sehen. Die SZ bespricht den Film.

+++ Außerdem läuft heute noch "Das Rätsel Francis Bacon" bei Arte: Manfred Riepe empfiehlt den Film im Tagesspiegel. Er schreibt: "Mit seinen schockierenden Geisterbildern erstellt Bacon intime Röntgenaufnahmen eines Schmerzes, den jeder von uns mehr oder weniger in sich trägt: Der Schmerz, zu leben. In ihren intensivsten Momenten macht die Dokumentation genau dies spürbar."

+++ Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag. +++