Das Altpapier am 27. Juni 2019 20 Jahre Mist

Der stellvertretende CDU/CSU-Bundestagsfraktionschef hat, gelinde gesagt, ein Problem mit der Pressefreiheit. Besteht das größte Problem deutscher Journalisten darin, dass sie unter Neophobie leiden? Ein Altpapier von René Martens.

"Die Zerstörung der CDU", also der Titel von Rezos Video, hat den einen oder anderen Witz nach sich gezogen, weil danach recht viele Bewegtbilder in Umlauf gerieten, die unfreiwillig selbstzerstörerische Akte von Christdemokraten dokumentierten. Der Zusammenschnitt einer Veranstaltung mit dem kubitschekoiden Wortschmied Uwe Tellkamp und Arnold Vaatz, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, toppt allerdings alles. Die Veranstaltung fand am 27. Mai in einer Dresdner Buchhandlung statt, bei YouTube eingestellt wurde das Video aber erst am Dienstag dieser Woche. Den Hinweis verdanke ich einem Tweet von Matthias Meisner (Tagesspiegel).

Der Titel der Veranstaltung lautete "70 Jahre DDR", die beiden Schwerdenker gehen nämlich, höho, von einer Art Teil-Weiterexistenz der DDR aus. Folgende Regeln gölten heute, sagt Vaatz:

"Es gibt jetzt neue Orientierungen zwischen Gut und Böse, und die sehen folgendermaßen aus: Böse ist die Atomkraft, gut ist die Windkraft, gut ist der Mieter, böse ist der Vermieter (…) Das hatte die DDR, die ja auch bemüht war, das Christentum zu substituieren in den Köpfen, schon angefangen, und Teil dieser Kriterien kennen wir ja von früher: Gut ist der Proletarier, böse ist der Kapitalist."

Das erst einmal zur Einstimmung, wir kommen jetzt zum Teil, in dem es um die Medien geht. Wer sind denn die, die diese Regeln bzw. "Kriterien" geschaffen haben? Vaatz bezeichnet sie als "Kirche". Und:

"Wie jede Kirche braucht diese eine Inquisition, und das ist die Presse. Die im Wesentlichen natürlich nicht mehr die Möglichkeit hat, Ketzern die Zunge rauszureißen oder sie auf Scheiterhaufen zu verbrennen."

Es gebe aber eine "neue Strafe für Verstöße gegen dieses Gut-Böse-Schema": Wer sich eines Verstoßes schuldig mache, werde "nicht mehr geköpft und nicht mehr verbrannt, sondern wird nur aus der medialen Relevanzzone entfernt, und das kultiviert in diesem Land eine ungehemmte Unkultur des Rufmords".

Zunächst inszeniert sich Vaatz als eine Art Verteidiger des Christentums, dann aber kommt der Klopfer, dass "jede Kirche eine Inquisition braucht", also auch die Kirche, der er angehört (falls er einer angehört). Zu den Opfern, die gerade noch mal Glück hatten, dass "die Presse" sie nicht geköpft, sondern "nur aus der medialen Relevanzzone entfernt" hat, zählt er wohl auch sich selbst, obwohl er seit 2016 immerhin 81 Kolumnen für die Super Illu rausgehauen hat. Und zur medialen Relevanzzone gehört diese Zeitschrift angesichts rund 242.000 verkaufter Exemplare im ersten Quartal 2019 durchaus. Die Wahrnehmung der Presse als monolithisches, feindliches Gebilde treibt er in der folgenden Passage auf die Spitze:

"Ich halte das Diktat der Presse in Deutschland für eine durch demokratische Prinzipien nicht gedeckte Einflussnahme auf die Politik, die derart totalitär geworden ist, dass es einem kaum Luft zum Atmen lässt, wenn man in der Politik ist."

So gaga sich das alles lesen mag: Ich glaube, man muss das unbedingt sehen und hören. Jeder kennt den Typ des allwissenden Nölers, der denen da oben mal zeigen würde, wo Barthel den Most holt, wenn man ihn nur ließe, und von denen man sich in der S-Bahn wegsetzt, wenn man das Pech hatte, in ihre Nähe zu geraten. Genauso redet Vaatz, obwohl er selbst einer von denen da oben ist. Diese klischee-kleingärtnerhafte Dröhnbüdeligkeit, dieser offensiv stammtischbrüderliche Gestus - ich gehe mal davon aus, dass sich Horden von Wissenschaftlern noch daran abarbeiten werden, auch wenn das angesichts bisher 631 Abrufen (Stand: Mittwoch, 22.45 Uhr) wie eine kühne These klingen mag.

Mich würde es ja sogar schon irritieren, wenn Arnold Vaatz Nachtwächter im Konrad-Adenauer-Haus wäre, aber, wie gesagt, er hat im CDU-Universum eine etwas höhere Position.

"Verbiestert, hysterisch, ängstlich"

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Georg Seeßlen eine umfassende Abhandlung über den heute schon erwähnten Rezo verfassen würde. In Sachen Greta Thunberg hatte er ja bereits eine ausgeruhte Betrachtung vorgelegt und zwar für die Jungle World (siehe Altpapier). Darin hieß es:

"Die Hysterie, mit der die Reaktionen vorgetragen werden, mag darauf schließen lassen (…), dass, vielleicht, eine Konkurrenz entsteht, wo Politik wieder mit Emotion und Dramatik besetzt werden kann."

Für die Juli-Ausgabe von konkret (die man nicht online kaufen kann, erst recht nicht einzelne Artikel) schreibt er nun noch einmal über Thunberg. Er widmet sich aber auch den medialen Reaktionen, die Kevin Kühnert, "der als Vorsitzender der Jugendabteilung einer vor langer Zeit sozial-demokratischen Partei allen Ernstes die Phantasie von 'Enteignung' andeutete, und das ausgerechnet in Bezug auf eine Automobilmarke, die alle maskulinistisch-karrieristischen Träume feucht macht" - und den die Trottel-Zeitschrift Stern gerade als den "wohl mächtigsten Juso-Chef aller Zeiten" bezeichnet hat - und eben Rezo ausgelöst haben. Der "größere Teil der Medien", so Seeßlen, sei

"von der unliebsamen Konkurrenz genauso angefressen wie die Politik. Denn wenn Greta, Kevin, Rezo und die anderen recht hätten, wenn sie auch nur überhaupt ein Recht hätten zu sagen, was sie zu sagen haben, müsste die Geschichte der Medien aus den letzten zwei Jahrzehnten, mindestens, neu geschrieben werden: als Geschichte eines fundamentalen Versagens."

Wenn sonst von medialem Versagen in "den letzten zwei Jahrzehnten" die Rede war, dann ging es ja eher um fehlende oder falsche Bezahlstrategien bzw. generell fehlende "Erfolgsmodelle" im Bereich der Digitalisierung. Es ging um notwendige neue journalistische Formen und andere Verbreitungswege (die mittlerweile längst entstanden sind), und an die Frau oder an den Mann gebracht wurde das Ganze dann mit Hilfe von allerlei Spacken-Jargon ("Change Management", "Workflow").

Wenn aber nun "Greta, Kevin, Rezo und die anderen" (und auch Seeßlen) recht haben, dann besteht das Problem für die etablierten Medien nicht in fehlenden Irgendwas-mit-digital-Strategien, sondern daran, dass ihre Inhalte Mist sind. Ob die "Holzkopfmedien", wie sie in einer Zwischenüberschrift des konkret-Textes genannt werden, damit werden umgehen können? Eher nicht. Seeßlen jedenfalls schreibt:

"Neben die Xenophobie der Rechten tritt (…) nun die Neophobie der alten Demokratie: sich allem Möglichen und Unmöglichen anbiedern und anbieten, aber sich auf keinen Fall von Grund auf verändern."

Fazit des Artikels, dessen Überschrift "Das Imperium schlägt zurück" lautet:

"Eine politisch-journalistische Kultur, die wir, schlicht, wie wir nun einmal gestrickt sind, euphemistisch Demokratie nannten, geht ihrem Ende entgegen (…) Aber was tun die Vertreter der alten politisch-journalistischen Kultur? Solidarisieren sie sich mit den neuen Impulsen und Möglichkeiten, empfinden sie gar eine kleine Freude darüber, dass mit alten Medien und alten Parteien die Geschichte des kritischen Einspruchs womöglich doch nicht zu Ende ist? Freut sich die sterbende Form der Demokratie über das Heranwachsen einer neuen? Nichts von alledem. Verbiestert, hysterisch und ängstlich um jeden Posten, jede Pfründe, jede Karriere verbünden sich die Kräfte des Alten unter dem Motto: Lieber schaffen wir die Demokratie ab, als sie einer neuen Generation zu überlassen."

Möglicherweise als ergänzende Lektüre zum - nicht nur - vorgestern hier ventilierten Themenkomplex Journalismus und Haltung (mit all seinen Nebensträngen) bietet sich ein Interview an, das Kontext mit Florian Klenk, dem Chefredakteur des Falter geführt hat. Anlass ist natürlich, dass er "zu den wenigen gehört", die das Ibiza-Video "ganz gesehen haben, alle sieben Stunden", aber es geht halt auch um allgemeinere Fragen. Klenk sagt:

"Bei der Recherche haben alle Journalisten ihre ideologische Brille abzunehmen, beim Sammeln von Fakten müssen wir präzise vorgehen wie Chirurgen. Man kann aber keinem Menschen, auch Journalisten nicht, übelnehmen, dass sie gesellschaftliche Positionen haben und die vertreten - für Humanismus im Strafvollzug, für Umweltschutz, gegen Korruption. Sonst wären wir Mikrofonständer. Journalisten haben sich immer eingesetzt. Viktor Adler (der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, Anm. d. Red.) hat sich als Arzt bei den Ziegelarbeitern in Wien eingeschlossen, um über deren elende Verhältnisse zu berichten und natürlich um sie zu verändern. Deshalb werden Sozialreportagen geschrieben."

Zu dem Satz "Sonst wären wir Mikrofonständer" würde ich ergänzen: Es gibt in diesem Sinne leider zu viele Mikrofonständer. Es sind vor allem die Mikrofonständer, die "von der unliebsamen Konkurrenz" durch Rezo "angefressen" sind, wie Seeßlen es formuliert, und deshalb "verbiestert, hysterisch und ängstlich" (ders.) reagieren. Die Mentalität dieser Mikrofonständer: Hoffentlich schaffe ich’s, mich bis zur Rente durchzuwurschteln, also spiele ich meinen Stiefel runter, und, na klar, ab und zu mal den kritischen Geist raushängen zu lassen, kann nicht schaden, aber allzu sehr auffallen sollte man vielleicht doch nicht.

"Wir sind alle geschädigt"

Matern Boeselager hat sich für Vice mal mit jenen Journalisten befasst, die "die Arbeit machen, die der Verfassungsschutz nicht macht" - und in der Regel nicht einmal dafür bezahlt werden. Als "in allen Redaktionen Deutschlands" die "Suche nach Details über Stephan Ernst" begann, seien die Journalist*innen "wie immer, wenn sie keine Ahnung hatten, wo sie anfangen sollten, an die verlässlichsten Quellen (gegangen): antifaschistische Recherche-Plattformen", die "so etwas wie das Gedächtnis der Antifa" bildeten.

Mit zwei Vertretern hat Boeselager ausführlich gesprochen: Sascha Schmidt von der Zeitschrift Der rechte Rand und dem Fotografen André Aden von Recherche Nord. Letzterer sagt:

"Wenn die mich auf ihren Veranstaltungen sehen, lassen die mich wissen, was sie gerne mit mir machen würden: 'Ich komme morgen vorbei, dann schlitze ich dich auf, dann weide ich deinen Hund und deine Familie aus' – sowas höre ich dauernd, mittlerweile haben die eigene Sprechchöre über mich. Das gehört dazu."

Und auf Boeselagers Nachfrage "Was macht das mit dir?" antwortet er:

"Also, ich fahre dann nicht nach Hause und sage mir: 'Was für ein schöner Arbeitstag!'. Viele halten das nach drei, vier Jahren nicht mehr aus. Du kannst einfach nie abschalten. Wir sind alle geschädigt davon."

Altpapierkorb (Geflüchtete in der Kultur- und Wirtschaftsberichterstattung, Ende Gelände, Journalismus in Görlitz, Bestes Fernsehen wo gibt)

+++ Das Migazin greift mit Bezug auf eine epd-Meldung eine Magisterarbeit auf, die im Herbert von Halem Verlag unter dem Titel "Von 'Wirtschaftsflüchtlingen' und 'Willkommenskultur'. Fluchtberichterstattung abseits des Politikressorts" als Buch erschienen ist. Jutta Brennauer hat hierfür "rund 300 Zeitungsartikel" untersucht, die zwischen August 2015 und März 2016 in den Wirtschafts- und Kulturressorts von FAZ und SZ erschienen sind. Ihre Kritik: "In fast 90 Prozent der Artikel kommen Geflüchtete gar nicht selbst zu Wort." Und von einer differenzierten Beschäftigung mit den Fluchtursachen könne leider überhaupt nicht die Rede sein.

+++ In eigener Sache berichtet das Neue Deutschland über einen polizeilichen Übergriff auf ihren Reporter Fabian Hillebrand bei der Demonstration des "Ende Gelände"-Bündnisses am vergangenen Wochenende: "Eine vorläufige Rekonstruktion der Ereignisse: Samstagnachmittag, 17.30 Uhr. Mehrere Aktivisten waren im Laufe des Tages in den Tagebau Garzweiler eingedrungen. Nun räumt die Polizei die Blockaden (…) Fabian Hillebrand filmt mit anderen Journalisten den Einsatz einer Rampe auf dem Abhang. Sein Presseausweis hängt deutlich erkennbar um seinem Hals. Nach seinen Angaben kommt nun ein Polizist auf ihn zu und bittet ihn, Platz zu machen. Hillebrand folgt der Anweisung und filmt weiter. Kurze Zeit später wird plötzlich seine Hand nach hinten geknickt, Polizisten führen ihn ab. Hillebrand schreit vor Schmerzen auf. Er wird zu einem Platz gebracht, an dem bereits abgeführte Kohlegegner sitzen und auf ihren Abtransport in die Gefangenensammelstelle warten."

+++ Als Ergänzung zum Altpapier von Mittwoch, das die Lage des Lokaljournalismus zum Thema hatte, bietet sich ein Übermedien-Artikel (€) an, in dem Ex-Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier sich mit dem Journalismus und der Journalismus-Rezeption in Görlitz befasst. Unter anderem hat sie die dortige Lokalredaktion der Sächsischen Zeitung und deren Leiter Sebastian Beutler besucht: "Viele Görlitzer (kritisieren) die Zeitung nicht für langweilige Themen, schlechte Schreibe oder unsaubere Recherche. In persönlichen Gesprächen stößt man immer wieder auf fehlendes Verständnis dafür, dass andere Seiten im Blatt zu Wort kommen. Ein elementares Element des Journalismus wird als Einsatz für eine andere Position als die eigene und damit als unangenehme Parteinahme durch die Zeitung wahrgenommen. Manchen sind selbst kritische Nachfragen schon zu viel. Zwei Wochen vor der Wahl hatte die SZ die beiden verbliebenen Bürgermeister-Kandidaten von AfD und CDU zur Podiumsdiskussion ins Theater geladen. Moderator Beutler konfrontierte den Kandidaten Wippel mit den Recherche-Ergebnissen zu seinem Studienabschluss. Schon das brachte die Anhänger des AfD-Politikers so in Rage, dass die Situation kurzzeitig zu eskalieren drohte."

+++ Lokstedts next Gniffke wird Marcus Bornheim: Der bisherige Zweite Chefredakteur von "ARD aktuell" wird ab 1. September Erster. Und Juliane Leopold rückt in die Chefredaktion auf. Siehe unter anderem Spiegel Online und DWDL.

+++ Wer macht das beste Fernsehen wo gibt? ARD und ZDF. Diese fast schon dissidente Position vertritt Tilmann P. Gangloff in der Stuttgarter Zeitung. "ARD, ZDF und ihre vielen Ableger zeigen das beste Fernsehen der Welt. Man muss es sich allerdings selbst zusammenstellen." Die allgegenwärtige Kritik an den beiden Systemen sei dadurch zu erklären, dass die Zuschauer "im Grunde bloß zu faul sind zum Suchen nach den vielen Nischenangeboten".

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.