Das Altpapier am 20. Juni 2019 Die Logik des Lochs

Gibt es ein Sommerloch? Berichten Medien zu wenig über Rechtsterror? Können Medien ihrer eigenen Logik entkommen? Ein Altpapier von Klaus Raab.

In Ermangelung eines offensichtlichen Sommerlochthemas wird gerade hier und da nach einem solchen gefahndet (1. “Sommerloch startet dieses Jahr kreativer als sonst“, 2.Freue mich schon auf ein 100% durch Gauck ausgefülltes Sommerloch“, 3. “Baby-Schlange bleibt auf Teer-Pappe kleben“ – “Ist schon Sommerloch?"). Aber es ist langsam mal Zeit für die Wahrheit: Es gibt gar kein Sommerloch.

Sommerloch – sagen Sie das mal einem Landwirt oder einer Hebamme, da haben die was zu lachen. Die Welt dreht sich auch weiter, wenn der Bundestag pausiert und Redaktionen urlaubsbedingt ausgedünnt sind. Es gibt, wenn überhaupt, bestenfalls ein Medienloch.

Darin allerdings stecken wir heute bis zu den Ohren. In einem Ein-Tages-Medienloch.

In Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz ist heute Feiertag. Es gibt demnach zum Beispiel keine Süddeutsche Zeitung und keine Frankfurter Allgemeine Zeitung. Und die Medienredaktionen der anderen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen beschränken sich – weitgehend – darauf, über das Serienprogramm aufzuklären: “Dark“, zweite Staffel. “Chernobyl“, läuft bei Sky. Peter Zwegats Werk

Die Berichterstattung über den Fall Lübcke

So können wir hier aber einsteigen in eine Frage, die beim verlässlich lochfreien Twitterdienst wahrscheinlich zuerst gestellt wurde, wenn auch in vielen Fällen ungünstig verkürzt auf die Frage nach einer zunächst unterbliebenen ARD-“Brennpunkt“-Ausstrahlung und nach der allgemeinen Talkshow-Themenwahl – als würde sich die Medienberichterstattung wirklich vornehmlich darin abbilden: Sind die Medien insgesamt zu zögerlich in der Berichterstattung über den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke?

Das ist der Vorwurf, der erhoben wurde, und der dieser Tage nun auch, größer gefasst, im Deutschlandfunk aufgegriffen wurde: “Es gibt Vorwürfe, die Medien würden zu wenig über Rechtsterror berichten“, lautet die Überschrift der schriftlichen Zusammenfassung mehrerer Hörfunkgespräche, die in den vergangenen Tagen gesendet wurden. Stimmt das?

Andrea Röpke, eine der im Deutschlandfunk zu Wort gekommenen Journalistinnen, Fachgebiet Rechtsextremismus, sagte: “Ich habe auch das Gefühl, dass rechte Gewalt, rechter Terror, die sich hier wirklich anhand einiger Organisationen einnisten konnten, dass wir das medial in den letzten Jahren zu wenig beleuchtet haben.“ Sie führt das unter anderem, aber nicht nur auf Ressourcenprobleme zurück.

Oder der ehemalige Spiegel-Redakteur Georg Diez; er befand, über Rechtsextremismus werde seiner Meinung nach oft zu zögerlich berichtet. Es gebe in deutschen Medien eine gewisse Angst, Dinge zu benennen, die mit rechtem Terror zu tun haben. “Das ist eine deutsche Pathologie, denke ich: Es darf nicht sein, was ist.“

Von nicht-deutschen Beobachtern gibt es vergleichbare Einordnungen. Zeit Online zitierte etwa den italienischen Corriere della Sera, der Fall werde “in einem immer mehr vom Rechtsextremismus erschütterten Deutschland vielleicht unterbewertet“.

Andererseits sind quantitative Vergleiche zwischen der Berichterstattung über den Fall Lübcke und der Berichterstattung über den, wie man heute weiß, erheblich weniger bedeutsamen Fall des niedergeschlagenen Bremer AfD-Politikers Magnitz vom Januar, die schon sehr früh nach dem Mord an dem Kasseler CDU-Politiker angestellt wurden, mittlerweile hinfällig. Das Blog Volksverpetzer schrieb etwa am 4. Juni, nur zwei Tage nach der Tat:

“In einer Analyse Mittels Mediacloud stellten wir fest, dass am ersten Tag nach der jeweiligen Tat über Magnitz 24 Berichte veröffentlicht wurden, zu Lübcke 19. Am zweiten Tag (der 8.1. und der 3.6. respektive) gab es zu Magnitz 138 Berichte, zu Lübcke hingegen nur 58.“

Dieses Verhältnis hat sich seitdem quantitativ komplett gedreht, wie eine Recherche im vom Altpapier genutzten MDR-Zeitungsarchiv oder in der üblichsten Suchmaschine mittlerweile deutlich zeigt. Trotzdem ist die Frage relevant, wie das Missverhältnis der ersten Tage entstehen konnte.

Die anfängliche mediale Zurückhaltung im Fall Lübcke lässt sich zumindest erklären und, wie ich finde, auch rechtfertigen. Dass es ein politisches Motiv gegeben haben könnte, weil Walter Lübcke sich so deutlich für die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen hatte, war anfangs nicht mehr als eine Mutmaßung. Die Frage ist dann aber, warum eine solche Zurückhaltung nicht auch gilt, wenn ein AfD-Politiker, wie Magnitz, seine Version der Geschichte erzählt.

Man kann das auf vielerlei Art interpretieren, auch politisch – aber ohne die Berücksichtigung medialer Eigenlogiken würde ein Faktor fehlen: Im Fall Magnitz gab es zitierfähiges Material, weil er, um “mediale Betroffenheit zu erzeugen“, dafür gesorgt hat, dass es welches gibt. Erregungspotenzial führte zu Berichterstattung. Im Fall Lübcke dagegen war eher Sommerlochlogik: Es gab kein derart eindeutig wirkendes Material, man war vielmehr von vornherein auf die Informationen von Ermittlern angewiesen. Also gab es zunächst weniger Berichterstattung.

Die mediale Logik ist offensichtlich. Aber sie ist sehr unbefriedigend.

Die vielen Logiken

Der Soziologe Armin Nassehi hat am Wochenende in einem taz-Interview über große gesellschaftspolitische Fragen gesprochen. Er wollte darauf hinaus, dass man mit der Formulierung von Zielen noch nichts erreicht habe. Die Formulierung von großen Klimazielen etwa sei, sinngemäß zusammengefasst, schön und gut. Aber wichtiger sei die erheblich kompliziertere Frage, wie man sie umsetze.

Es gebe, sagte er, “unterschiedliche Denkungsarten und Funktionslogiken“. Die Logik der Politik etwa sei nur eine von vielen. Es gebe auch eine Logik des Rechts, der Technik, der Wirtschaft, der Wissenschaft. Und eine Logik der Medien natürlich ebenfalls.

“Keines dieser Systeme“ – wobei hier “System“ ein soziologischer Begriff ist, der mit dem Gebrauch des Begriffs etwa in der politischen Rechten nichts zu tun hat – “kann seine je eigene Logik außer Kraft setzen, um sich dem Wohl des Großen und Ganzen zu verschreiben. In der Wirtschaft muss man Geld verdienen können. Als Politiker muss man wiedergewählt werden können, um Macht ausüben zu können. Rechtliche Normen müssen gelten dürfen. Medien brauchen jeden Tag etwas zu melden. Diese Logiken arbeiten zum Teil gegeneinander und sind nicht von einer Stelle aus kausal zu steuern.“

“Die Medien“ sind eben zu viele unterschiedliche Player, als dass eine Schubumkehr einfach durch die Formulierung einer Zielvorgabe erreicht werden könnte. Kann man an der Wirksamkeit dieser Logiken also nichts ändern? Nassehi ist da jedenfalls zurückhaltend:


“Am laufenden Motor kannst du keine Revolution machen, ohne ihn stillzulegen. Ich will sagen: Die Widerständigkeit der Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Trägheit und ihre Unbeeindruckbarkeit ist enorm. Man muss einfach sehen, wie schwierig der Eingriff in Systeme, Gewohnheiten, Lebenspraxis in einer strukturell komplexen Welt ist.“

Medien brauchen jeden Tag etwas zu melden: Deshalb, um den Kreis zu schließen, gibt es unter Journalisten den Mythos, es gebe ein Sommerloch. Auch wenn Hebammen und Landwirte das ganz anders wahrnehmen.


Altpapierkorb (GOA, Tauber und Art. 18, Leyendecker, Merkels Unpässlichkeit)

+++ “Wie sie wissen, redet man in der Politik ja in letzter Zeit sehr viel über YouTube…“ – Die Grimme Online Awards wurden verliehen. Gewonnen haben in der Kategorie “Information“ Correctiv und die Krautreporter. Sowie die YouTube-Medienkritiker von Ultralativ.

+++ Der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber hat in einem Gastbeitrag in der Welt (für Abonnenten) gefordert, “Feinden unserer Verfassung, die ihre Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbrauchen“, die Grundrechte zu entziehen – wie es das Grundgesetz vorsieht. Die Junge Freiheit, Zeitung der Neuen und gewiss auch alten Rechten, behauptet, er wolle sie Asylkritikern entziehen. Ein Thread von Matern Boeselager dazu ist lesenswert.

+++ Der ehemalige Investigativjournalist Hans Leyendecker, der nun Präsident des Evangelischen Kirchentages ist, begründete im “Morgenmagazin“ des ZDF am Mittwoch, warum AfD-Leute dort, auf dem Kirchentag, nicht willkommen seien: Warum solle man jemanden einladen, der zum Beispiel auf einem Podium zum Klimawandel behaupten würde, der sei nicht menschengemacht? “Solchen Leuten darf man keinen Resonanzboden bieten. Das sind ja auch keine Argumente. Da würde es nur darum gehen, dass wir Journalisten sagen, auch die AfD ist dabei.“

+++YouTube hat nicht nur Rezo und Ultralativ, sondern auch sonst allerhand Feines (Spiegel Online).

+++ Worin besteht der Nachrichtenwert von Angela Merkels Schwächeanfall? Fragt die taz.

+++ Heute gibt es übrigens den von vielen ersehnte Talk über rechten Terror, bei “Maybrit Illner“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.