Das Altpapier am 7. Juni 2019 "Hui, viel los hier"
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Julia Klöckners Nestlé-Video zeigt, dass die CDU ihrem Image auch allein genug schaden kann. Das Indexmodell für die Rundfunkgebühren kommt – wahrscheinlich. Wann und wie, ist allerdings noch unklar. Außerdem: gute Zahlen, schlechte Zahlen in der Medienbranche und das System Klatschblatt. Ein Altpapier von Kathrin Hollmer.
Die Abrechnung mit der CDU (und CSU und SPD) von Youtuber Rezo (Altpapiere dazu) liegt erst knapp drei Wochen zurück, schon demonstriert die CDU eindrucksvoll, dass sie das auch selbst hinkriegt, zwar nicht mit ihrer "Zerstörung", von der in Rezos Video die Rede war, aber schon mit ihrer weiteren Demontage.
Was passiert ist: Am Montag veröffentlichte der Twitter-Account des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (@bmel) ein Video von Agrarministerin Julia Klöckner im Gespräch mit Nestlé-Deutschland-Chef Marc-Aurel Boersch, in dem sie die Zucker-, Fett- und Salzreduktionsstrategie des Konzerns lobt ("in den Produkten, die die Bürger gerne mögen").
Die Rückmeldungen kamen prompt, wie das im Internet nun mal so ist. Einige Auszüge aus dem Thread:
"Macht das Ministerium jetzt offiziell Werbung für Nestlé? Sorry aber das ist auf so vielen Ebenen widerwärtig und davon ernährt sich auch niemand gesund." (@journelle)
"Fällt das Video nicht unter Schleichwerbung @mabb_de ?
Warum gelten für ein Ministerium andere Regeln als beispielsweise für YouTuber?" (@dasnuf)
"Fun Fact: Hätte ich exakt diesen Tweet mit genau so einem Video gepostet, hätte ich es als #Werbung kennzeichnen müssen." (@rezomusik)
Und die Reaktion des BMEL? "Hui, viel los hier", antwortet der Account irgendwann auf die Kritik an dem Video. "Politik heißt, im Gespräch zu bleiben. Wir wollen konkrete Fortschritte machen bei der #Reduktion von #Zucker, Fetten und #Salz. Und auf der anderen Seite diese Produkte erkennbar machen. Deshalb sprechen wir mit ALLEN, die dieses Ziel unterstützen." Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen einem Gespräch und einem öffentlichen Bauchpinseln eines umstrittenen Konzerns.
Bereits am Donnerstag fasste Paul Ingendaay in der FAZ die Vergehen vom umstrittenen Nestlé-Konzern zusammen und kommentierte:
"Die Ministerin betreibt Industrielobbyismus mit Bundesmitteln und hat nicht erkannt, dass die Zeiten andere geworden sind. Sie gibt Vereinfachern wie Rezo nachträglich recht und liefert nicht nur den Grünen, sondern auch dem arg zerzausten Koalitionspartner eine Steilvorlage: Endlich kann sich die SPD wieder über einen Blödsinn aufregen, der nicht aus den eigenen Reihen stammt."
Die Medienaufsicht Berlin-Brandenburg, heißt es bei FAZ.net, will prüfen, ob das Video ungekennzeichnete Werbung des Konzerns ist. Für den Medienanwalt Christian Solmecke ist die Sache klar, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt er, warum Politiker auch Influencer und darum als solche zu behandeln sind:
"Was denn anderes als Influencer sind denn Politiker? Sie wollen uns beeinflussen und haben mehr Reichweite als jeder YouTuber oder jeder, der bei Twitter unterwegs ist, und das nutzen die - man sieht es zum Beispiel an dem US-Politiker Donald Trump - auch ganz ordentlich, und die versuchen auch Leute zu beeinflussen",
sagt er, und weiter:
"Für mich hatte das mit Dialog überhaupt nichts zu tun. Das ging ja nur in eine Richtung und alles nur pro Nestlé, und insofern hätte am Anfang des Postings klar 'Werbung' und in deutscher Sprache 'Werbung' oder 'Anzeige' stehen müssen, bitte schön auch nicht so Worte wie 'sponsored post' oder 'gesponsert by', was manche Influencer versuchen. Nein, da muss dann Werbung stehen, wenn man Werbung macht, und da müssen sich Politiker genauso behandeln lassen wie alle anderen Influencer."
Abgesehen von der inhaltlichen Kritik an dem Video zeigt der Umgang der Union damit einmal mehr, wie wenig man dort die Bedeutung von Social Media und generell dem Internet begriffen hat. Dabei dürfte die letzte Lektion noch präsent sein, sie ist auch noch nicht abgeschlossen (für kommende Woche hat das ZDF Rezo als Gast in Jan Böhmermanns Neo Magazin Royale angekündigt).
Klöckner selbst, seit mehr als zehn Jahren auf Twitter und dort sehr aktiv, begann am Dienstag einen Tweet mit "An die Hatespeaker, weil ich mit Nestlé gesprochen habe". Dass sie sachliche Kritik als Hatespeech bezeichnet und damit abtut, ließ den Shitstorm nur noch mehr an Fahrt aufnehmen.
Robert Rossmann schreibt dazu in der SZ von heute:
"Die CDU ist im Umgang mit den sozialen Medien meistens zu behäbig. Erst erkennt die Partei nicht, dass ein Problem aufzieht - und wenn sie es dann doch erkannt hat, reagiert sie gar nicht oder viel zu langsam. Das hat der Umgang der CDU mit dem 'Die Zerstörung der CDU'-Video von Rezo beispielhaft gezeigt."
In einer Rede beim Kongress des Frauenwirtschaftsmagazins Plan W habe Klöckner von Transparenz in den sozialen Medien gesprochen. "Leider würden ihre Beiträge aber regelmäßig missbraucht, 'um Stimmung zu machen oder um Dampf abzulassen'."
"Das klingt ehrenwert, geht im aktuellen Fall aber am Problem vorbei. Denn die Empörung darüber, dass Kritiker als 'Hatespeaker' abgetan werden, ist ja keine unzulässige Stimmungsmache. Und die Kritik an dem werblichen Auftritt mit dem Nestlé-Chef ist ja keine Falschbehauptung. Sogar Parteifreunde Klöckners beanstanden das Video. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter klagt etwa: 'Das geht gar nicht, sich als Ministerium so eng an eine Firma zu binden'.
(...)
Am Donnerstag versuchte das Agrarministerium deshalb, den Schaden zu begrenzen. Eine Sprecherin sagte, mit 'Hatespeaker' habe Klöckner nicht alle Kritiker gemeint, sondern nur diejenigen, welche die Ministerin als 'Konzernhure' bezeichnet hätten",
heißt es weiter in der SZ.
Der Nachtrag überzeugt nicht und lenkt nicht davon ab, dass sachliche Kritik, die einem nicht passt, als Hatespeech abzutun, nicht besser ist als ein Präsident, der Recherchen, die ihm nicht passen, als Fake News bezeichnet.
Entscheidung vertagt
Gestern im Altpapier wurde bereits die Tagung der Ministerpräsiden:innen-Konferenz angekündigt, bei der es auch um das Indexmodell (siehe nochmal Altpapiere dazu) für die Rundfunkbeiträge geht. Eine Entscheidung haben die Minister nicht wirklich getroffen. Statt Beschlüssen gab’s Politikerfloskeln. Man habe sich "nahezu verständigt", "der überwiegende Gesprächsstand" sei.... Es sieht jedenfalls danach aus, dass das Indexmodell kommt. Das sieht vor, dass die Beiträge, abhängig von Faktoren wie dem Inflationsausgleich und einer medienspezifischen Teuerungsrate, automatisch steigen sollen. Die Sender müssen dann nicht mehr alle vier Jahre ihren Bedarf für die nächste Gebührenperiode bei der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) zur Prüfung vorlegen.
"Der Beschluss ist gefasst, alle Fragen sind offen", kommentiert Christian Buß bei Spiegel Online. Wann und wie das Indexmodell in Kraft treten soll, ist noch unklar, ebenso, wie hoch die neuen Gebühren am Anfang sein sollen, ihren Bedarf haben die Sender bereits eingereicht und eine Erhöhung gefordert.
Bei Spiegel Online sieht man in dem neuen Modell Vorteile:
"Mit dem angedachten Modell soll ARD und ZDF zu mehr Eigenverantwortung verholfen werden - im doppelten Sinne. Einerseits müssten sie lernen, effizienter zu wirtschaften, andererseits könnten sie besser auf den Medienwandel reagieren, weil sie sich nicht mehr jedes neue Programm von der Politik absegnen lassen müssten. So könnten sie ihre Inhalte leichter über Mediatheken, Apps oder andere digitale Distributionswege ausspielen. Das ist dringend notwendig, um die bislang extrem behäbig agierenden öffentlich-rechtlichen Apparate für die Zukunft fit zu machen."
"Behäbig" ist ein gutes Stichwort. "Da sich die Ministerpräsidenten nur selten in kompletter Runde treffen, ist mit einer Entscheidung vor Oktober wohl nicht mehr zu rechnen", schreibt Hans Hoff auf der SZ-Medienseite von heute. Schon seit Jahren diskutiert man in der Politik über eine Strukturreform – "ohne erkennbaren Fortschritt", wie Michael Hanfeld in der FAZ von heute feststellt. Er thematisiert, wie auch schon bei SPON anklingt, die politische Tragweite des neuen Modells:
"Gravierend ist der Schritt, weil er die parlamentarische Mitwirkung am Rundfunkbeitrag beendet. Bislang schlägt die Fachkommission Kef die Beitragshöhe vor, die Ministerpräsidenten beschließen, die Landesparlamente stimmen zu – oder nicht. Sie wären künftig außen vor."
"Vorbehalte gegen ein Index-Modell" gebe es von der FDP, die an den Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen beteiligt ist. Ist natürlich fishing for votes, die Senkung der Gebühren (zum Beispiel auf die Hälfte) ist ein Lieblingsthema der Partei. Auch der Privatsenderverband Vaunet nutzte den Anlass, um zu fordern, dass sich ARD, ZDF und Deutschlandfunk "klarer von den Angeboten der privaten Sender unterscheiden und schwerpunktmäßig mit 75 Prozent ihres Budgets auf die Bereiche Information, Kultur und Bildung konzentrieren", schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel. "Für das Radio wird eine Begrenzung der Werbung gefordert, im Fernsehen sollte es ein generelles Werbe- und Sponsoringverbot bei ARD und ZDF geben."
Einen Beschluss gab es übrigens doch: die Abschaffung der Rundfunkgebühren für Zweitwohnungen, womit die Ministerpräsident:innen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr gefolgt sind.
Altpapierkorb (Journalist:innen-Bücher, das System Klatschblatt, gute und schlechte Zahlen, Margarete Stokowski)
+++ Kerstin Kohlenberg hat für Die Zeit Michael Wolff (siehe Altpapiere), Autor des Trump-Enthüllungsbuchs "Feuer und Zorn", getroffen. Auch die Fortsetzung wird vorab von einem Skandal angeteasert.
+++ Nochmal Die Zeit, nochmal eine Buchankündigung, diesmal von der Sky-Moderatorin Jessica Libbertz, einer der wenigen Fußballmoderatorinnen überhaupt.
+++ Roland Hag, Chefredakteur der Neuen Post, hört auf. Wäre als Meldung wahrscheinlich eher keine Erwähnung an der Stelle wert. Das Video von Übermedien zum System Neue Post (mit absurden 25 Millionen verkauften Heften im Jahr) aber schon.
+++ "Irgendein Tag ist ja immer", schrieb Altpapier-Kollege Christian Bartels am Montag. Zum gestrigen Sehbehindertentag verweist Leidmedien auf die Tatsache, dass in dieser Woche nur fünf Prozent des deutschen TV-Programms mit Audiodeskription verfügbar waren. Einen Überblick über das Angebot gibt es hier.
+++ Auf der SZ-Medienseite spricht Perspective-Daily-Gründerin Maren Urner über den neuen heißen Scheiß im Journalismus, nämlich konstruktiven Journalismus.
+++ Gute Zahlen: Ibiza-Gate und die Europawahl haben im Mai auf den Online-Nachrichtenseiten für gute Abrufzahlen gesorgt, meldet Meedia nach Auswertung der AGOF-Zahlen.
+++ Schlechte Zahlen 1: Gruner + Jahr stellt das Elternmagazin Nido nach zehn Jahren ein, Mitte Juli soll die letzte Ausgabe erscheinen. Erst im vergangenen Jahr wurde die Neon, zumindest gedruckt, eingestellt, Nido soll auch online nicht weitergeführt werden, meldet unter anderem Spiegel Online und zitiert Verlagsleiter Frank Thomsen: "Weder Auflage noch Anzeigenumfang reichten aus, um dem Heft eine wirtschaftliche Perspektive zu geben."
+++ Schlechte Zahlen 2: Krisenstimmung gibt es aber nicht nur in der Printbranche, sondern auch bei Online-Magazinen wie Vice und Buzzfeed. "Die Medienkrise, so scheint es, hat die journalistischen Digitalunternehmen und damit die nächste Generation erreicht", schreibt Martina Kix in der Zeit-Wirtschaft. (€)
+++ Das Ibiza-Video hat auch Auswirkungen auf die Berichterstattung der Kronen-Zeitung, erfährt man in der @mediasres-Kolumne im Deutschlandfunk.
+++ Traditionell werden in den Sommerinterviews von ARD und ZDF die Parteivorsitzenden befragt, das ZDF hat trotzdem die Bundeskanzlerin angefragt und eine Absage kassiert, meldet DWDL.
+++ In der Taz kann man nachlesen, wie AfD-Pressemitteilungen durch ihre Selektion Angst schüren.
+++ Und das SZ-Magazin portraitiert in seiner Titelgeschichte die "lauteste Stimme des deutschen Feminismus", Margarete Stokowski.
Neues Altpapier gibt’s am Dienstag. Bis dahin ein schönes Wochenende!