Ein Geschenk-Papier von Boris Rosenkranz Die urbane Kantigkeit des Altpapiers
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29. Oktober 2020, 08:00 Uhr
Hinter das Altpapier hat der MDR eine massive Betonwand gestellt. Sehr trendy! Also trendy im Sinn von: Verbraucherservice-TV 2015. Zum 20. Jubiläum unserer Kolumne: eine kleine Stilkritik von Übermedien-Redakteur Boris Rosenkranz, der selbst noch nie vor einer grauen Wand… oh, Moment!
Das Altpapier wird 20, reden wir also über Beton. Über grauen, grobporigen Beton. Sehen Sie sich doch mal hier um.
Hinter dem Altpapier steht eine massive Betonwand, die wahrscheinlich jemand aus der Grafikabteilung des MDR da hingestellt hat, nachdem das irgendwer mittels Formular G2 beantragt hat. Das Altpapier ist ja schon gefühlt zehnmal umgezogen in all den Jahren, und meist waren das schlichte Hütten. Viel Weiß, wenig Design, eine Herberge sogar unter evangelischer Leitung, also eher Kategorie Raufaser.
Aber seit 2017 wohnt das Altpapier nun in Erfurt, beim Mitteldeutschen Rundfunk, quasi dem Bauhaus der insgesamt eher hölzernen ARD, und da gibt es nun Beton, auf dem sich alles abspielt: jeden Werktag eine Kolumne von Leuten, die schon früh morgens (seufz) alles gelesen haben, was man in der Brangsche so wissen sollte. Mediengeschichten. Debatten. Oft auch Abseitiges, den neuesten crazy Kommentar von Ulf Poschardt zum Beispiel, solche Sachen. Es ist gut, dass es das gibt, also diese Kolumne. Und es ist harte Arbeit. Hart wie, ja genau: Beton. Vielleicht steht da deshalb diese Wand.
Die andere Möglichkeit ist natürlich: Das ist total angesagt. Beton. Mega 2020. So kühl, so edgy, Beton. Hat Friedrich Liechtenstein schon einen Song über Beton gemacht?
Eigentlich, jetzt müssen alle stark sein, ist Beton tot. Tut mir leid. Aber das erkennt man daran, dass die Servicezeit im WDR bereits 2015 in der wegweisenden Reportage "Eine Küche für Ingolf" berichtete, der "Loft- und Betonlook" sei "sehr trendy zur Zeit". Wenn Sie so etwas dort über irgendwas hören, wissen Sie: Das ist seit drei Jahren durch. In Herne machen sie jetzt sogar schon die Kinderzimmer so.
Beton ist Darmstadt
Vor allem im Fernsehen findet sich trotzdem viel Beton in den vergangenen drei, vier, fünf Jahren. Wohl, weil im Fernsehen lief, beim WDR, dass Beton "trendy" ist. Und das haben sie dann in anderen Sendern mitgekriegt und sich mal umgehört.
2017, als das Altpapier zum MDR zog, bekam auch das alte Wirtschaftsmagazin Wiso ein neues Zuhause. Entworfen wurde es im Atelier Markgraph in Frankfurt am Main. Und weil man, damit die ZDF-Produktionsleitung so ein fetziges Studio bewilligt, natürlich eine Begründung braucht, weshalb das "prägende Material" Beton sein soll, schreibt die Agentur: Die "Haptik" dieses Materials stehe für die "urbane Alltagsnähe der Sendungsthemen". Außerdem solle es die "Kantigkeit" dieser Themen symbolisieren. Und wenn irgendwer auf dem Lerchenberg in Mainz urban, kantig und alltagsnah kurz hintereinander hört, unterschreibt er oder sie sofort jeden Design-Auftrag. Urban, das klingt so Berlin, Hamburg, mindestens Darmstadt. Urban ist junge Zielgruppe, U50. Urban ist alles und nichts. Urban ist Beton ist Wiso.
Passen Sie also bitte auf, wenn Sie das nächste Mal Wiso gucken, dass Sie sich nicht stoßen an den kantigen Themen. Wobei sich ja ohnehin die Frage stellt, ob Themen nicht eher rund sein sollten, aber das ist ein anderes kantiges Thema, und vielleicht sind Studios bald dann eben weich und warm, wie Waben, ganz organisch, als Kontrast zur schroffen Welt. Es gibt bereits Ansätze, aber so weit sind wir noch nicht.
Beton ist Optik
Erst mal weiter Beton. Auch das nagelneue Studiodesign des Morgenmagazin im ZDF hat Elemente in Beton-Optik und auch eine Altpapier- bzw. Zeitungswand, neben der Interviews geführt werden. Das wirkt dann wie bei Herzblatt damals mit Rudi Carrell, kurz nachdem sich die Wand öffnete und der Kai auf die Silke traf oder die Claudia auf den Matthias. Nur dass im ZDF ein Tisch dazwischen steht, wenn da wer steht.
Auch bei N24, als es N24 noch gab, gab es mal Beton-Optik im Hintergrund, was wahrscheinlich, ich vermute das nur, die Kantigkeit der Nachrichten symbolisieren sollte, oder die des Moderators. Jedenfalls, so viel sollte nun klar sein: Beton und Beton-Optik ist überall, in Steffen Henßlers Kochgedöns auf VOX (zusätzlich zu feuerfestem Stahl, uh), seit 2016 ebenfalls in den WDR-Nachrichtenformaten ("sachliche Strukturen und Materialien aus Holz, Metall und Beton"), in einer furchtbaren virtuellen Variante beim Promi-Magazin Brisant (natürlich in Kombi mit Pseudo-Gold und -Glas), und bei Extra 3 im NDR, dem Satiremagazin, ist es Old-School-Graffiti-Beton.
Beton ist Tapete
Beton ist also offenbar das Studioelement der ausklingenden 2010er-Jahre. Ein Rätsel ist allerdings noch ungelöst: wer die RTL-Frau immer bei uns, bei Übermedien, reinlässt.
Im RTL-Frühstücksfernsehen Guten Morgen Deutschland gibt es manchmal so eine Rubrik, in der "Discounter-Schnäppchen" gezeigt werden. Da wird dann zum Beispiel ein Brotbackautomat nicht in einer Küche vorgeführt, abwegiger Gedanke, sondern in einem Raum mit einer, Überraschung: Beton-Wand. Und wenn Sie es niemandem verraten, verrate ich, dass die gar nicht echt ist. Fernsehen, ey. Alles Schmus.
Die Betonwand ist eine Betonwand-Tapete, Sie ahnten es längst. Und ich weiß das so genau, weil ich mich eben frage, ob diese Frau von RTL das heimlich in unserem Übermedien-Studio aufnimmt, das wir, hüstel, Anfang 2016 eben auch in diesem trendy-kantigen Beton-Look ausgekleidet haben, aber ohne vorher die Servicezeit zu gucken, ich schwör.
Wir wollten halt einfach, haben wir unserem Steuerberater so erklärt, die Kantigkeit der alltagsnahen, urbanen Übermedien-Themen ausdrücken, außerdem war's günstig, und wenn RTL das dann nachtapeziert, was soll man machen.
Jedenfalls: Das Altpapier wird zwanzig, Übermedien im Januar fünf. Uns verbindet nicht nur der Beton. Aber vielleicht gehen wir bald mal zusammen eine neue Wand aussuchen. Für euch und für uns. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch!
Unser Gastautor: Boris Rosenkranz gehört zu den Gründern des Portals Übermedien, das sich kontinuierlich mit der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten auseinandersetzt. Er hat beim NDR volontiert und dort unter anderem für das Medienmagazin "Zapp" gearbeitet; seit 2016 ist er unter anderem Autor bei "Extra 3". In seinen Videobeiträgen für Übermedien sieht man ihn bisweilen vor einer Wand stehen. Mehr auf uebermedien.de.