Porträt von Imre Grimm
Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Imre Grimm

Ein Geschenk-Papier von Imre Grimm The Golden Age of Medienjournalismus

04. November 2020, 07:59 Uhr

Sind Medienjournalisten wie Frösche, die den eigenen Teich niemals auszutrocknen bereit wären? Imre Grimm vom RND kolumniert in seinem Geschenkpapier über putzige Trends, popkulturelle Schlemmerbüffets, bestürzend lückenhaftes Medienwissen und das fragile Idealkonstrukt "Wahrheit".

"Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch." (René Descartes)

Herzlich willkommen in diesem Text. Die Lesezeit beträgt zwischen elf und 14 Minuten, in Einzelfällen (kognitive Verkantungen, geistige Maladität) bis zu 20 Minuten. Dieser Service ist für Sie kostenlos. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, sagen Sie das bitte unserem Mitarbeiter. Vielen Dank. Sie werden jetzt in den zweiten Absatz weitergeleitet.

Ich schicke das nur vorweg, weil publizistische Servicekräfte in Texten jetzt überall die voraussichtliche Lesezeit plus allerhand nutzwertigen Zierrat angeben – Hashtags, Bullet Points, Sternchenwertung. Auf einem Bordmagazin von British Airways stand mal "Total Reading Time: 58 Minutes". Nicht 59 Minuten. Nicht 61 Minuten. (Inhaltlich will ich über das Bordmagazin nicht urteilen. Die Fotografin Ellen von Unwerth hat vier Frauen mit Badehaube auf einer Schwimmbanane fotografiert. Das ist Frequent-Flyer-Kunst, das enthebt sich der Beurteilung von Normalreisenden.)

Am putzigen Trend zur Lesezeitangabe aber lässt sich zweierlei ablesen: Offenbar gibt es einen Bedarf für betreutes Lesen, ganz im Sinne einer optimalen Lebenszeitverwertung. Und offenbar scheint die Medienbranche ihr Heil unter anderem darin zu sehen, dem Leser die Unsicherheit zu nehmen. Dabei ist die Unsicherheit der Branche selbst viel größer als die ihrer Nutzer. 

Und gerade deshalb: Es sind goldene Zeiten für den Medienjournalismus. Nicht, weil es ihm selbst aktuell so gut ginge, was Ansehen, Wirkungsgrad und Ausstattung betrifft. Sondern weil der Gegenstand seiner Betrachtung, "die Medien" also, einen so gewaltigen Zuwachs an Vielfalt und Bedeutung erleben. Gewiss waren die "Hitler-Tagebücher" oder der Start des Privatfernsehens auch spektakuläre Wegmarken. Aber im Vergleich zu den fundamentalen Umwälzungen der Gegenwart waren es doch beschaulichere Vorgänge. Inhaltlich erleben wir das "Golden Age of Medienjournalismus".

Fundamentale Umwälzungen, wohin das Auge blickt: Nicht nur, dass das Fernsehen seinen Nimbus als nationales Heiligtum mit staatsstabilisierender Wirkung verloren hat. Nicht nur, dass die deutschen Sender, die sich in das duale System so gemütlich eingekuschelt hatten wie ein Schneehund in seine Kuhle, die radikalsten Veränderungen seit Jahrzehnten durchleiden. Nicht nur, dass Verlage sich auf der Suche nach digitalen Geschäftsmodellen häuten und neu erfinden müssen. Plötzlich sitzen die Konkurrenten mit ihren popkulturellen Schlemmerbüffets und Werbemilliarden-Staubsaugern nicht mehr in Köln oder München, sondern in Kalifornien und New York. Bots beeinflussen Wahlen, Amazon zeigt Livesport, die ARD und Sky verbrüdern sich. Es ist nichts mehr, wie es war. Und Fernsehserien sind die populärste und einflussreichste Kulturform der Gegenwart.

Es ist ein paar Jahre her, da ergötzte sich Henryk M. Broder aus Anlass eines anlasslosen Streits mit Stefan Niggemeier öffentlich an der Berufsbezeichnung "Medienjournalist". Was das denn bitte sein solle? Ist das nicht wie "weißer Schimmel"? Daraus sprach die behagliche Denke eines publizistischen Silberrückens. Wirtschaft, Politik, Vermischtes – alles klar. Aber "Medien"? Als Ressort? Blendwerk und Firlefanz.

Also, was ist das für eine merkwürdige Profession: Medienjournalist?

Die frisurelle Besessenheit in der deutschen Medienwelt

Stellen wir uns das öffentliche Leben als Schauspiel vor. Auf der Bühne tobt ein polyphones Chaos, in dem Politik, Kultur, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft mit allen Tricks um Gehör und Anerkennung buhlen. Die Medien sind die Kritiker in diesem Theater. Ihr Augenmerk liegt auf der Bühne und dem Publikum zugleich. Wie reagieren die Zuschauer? Wird gebuht oder gejubelt? Wie funktioniert das Wechselspiel?

Und ganz oben, weit hinten im Schatten des Oberrangs sitzen die Medienkritiker und beobachten die Kritiker – sie sind die Kinder des Olymp. Die Beobachter der Beobachter. Es ist manchmal der einsamste Ort, der im Journalismus zu finden ist.

Können Journalisten als Teil der Branche überhaupt unabhängig über das Geflecht berichten, in das sie selbst eingebunden sind? Ist ein Medienjournalist nicht automatisch wie der Frosch, der den eigenen Teich niemals auszutrocknen bereit wäre? Stichwort: "Nestbeschmutzer"? Tatsächlich ist das Mimosenhafte überraschend weit verbreitet in dieser Profession, die mit branchenfernen Sündern sonst wenig zimperlich umgeht. Man nimmt schnell ausführlich übel. Groß war der Aufschrei, als der Youtuber Rezo es wagte, trotz auffälliger Haupthaargestaltung und Fehlen eines offiziellen Diploms in Medienkunde in juvenilem Parlando die Mechanismen des Boulevards zu sezieren. Überhaupt gibt es eine frisurelle Besessenheit in der hiesigen Medienwelt: Wer auch immer mit auffälligem Schopf Gehör verlangt, wird als "Berufsjugendlicher" umgehend einer clever verschleierten Inkompetenz geziehen, ob roter Irokese oder blaue Welle. Dabei sind beide kluge Köpfe.

Was viele gar nicht gemerkt haben in ihrem rotglühenden Zorn: Rezos Film "Die Zerstörung der Presse" war mit all seinen Eitelkeiten und Schwächen ja im Kern eine Liebeserklärung. Sie fußte auf der tiefen Überzeugung, dass Journalismus, der bestimmte Regeln einhält, als unentbehrlicher Pfeiler einer freien Gesellschaft einen unschätzbaren Wert hat.

"Journalisten sind teilweise so dumm", schalt er darin recht allgemein. Zweifellos gibt es Klügere und Dümmere in jeder Branche. Sein Fehler war, daraus quasi ein Pauschalurteil abzuleiten. Das ist, als würde man sagen: Mir ist gestern ein Apfel auf den Kopf gefallen – jetzt hasse ich Obst. Denn dass Rezo selbst plus das Bildblog plus Übermedien so ungefähr die Einzigen seien, die in dieser Branche auch mal feucht durchwischen, ist schlicht falsch.

Bei aller Starrköpfigkeit und Hybris der Medienwelt: Die deutsche Medienkritik existiert und funktioniert. Es gibt hervorragende Medienjournalisten in diesem Land; den unkorrumpierbaren Stefan Niggemeier, Boris Rosenkranz, Samira El Ouassil, Jürn Kruse, Anne Fromm, Thomas Lückerath, Joachim Huber, Christian Meier, die Zapp-Redaktion, die turi2-Mannschaft, die Helden der Titanic, die alten Kämpen wie Volker Lilienthal oder Hans Hoff (herrje, jetzt sind wieder alle anderen beleidigt, ich hätte nicht mit Namen anfangen sollen). Und natürlich das Team des Altpapiers – quasi als Beobachter der Beobachter der Beobachter (Gratulation zum 20. Geburtstag).

Medienjournalisten schreiben gern für Kollegen

Wie kommt es dann aber, dass es um die Medienkompetenz im Lande nicht sonderlich gut bestellt ist? Es könnte damit zusammenhängen, dass Medienjournalisten gern für Kollegen schreiben, statt für den Normalverbraucher. Denn die Branche, die sich nicht gerne im eigenen Elend suhlt, muss noch erfunden werden.

Das Medienwissen in Deutschland ist bestürzend lückenhaft. 38 Prozent der Deutschen glauben, dass Journalisten berichten dürften, was sie wollen, weil es keine gesetzlichen Schranken gebe. Je 11 Prozent glauben, dass Behörden journalistische Berichte freigeben müssen und dass der Staat entscheide, wer Journalist werden darf. Das hat die "Langzeitstudie Medienvertrauen" der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz ergeben.

Dringend braucht das Land also ein flächendeckendes Schulfach namens Medienkunde. Es genügt nicht, Laptops an Lehrer zu verteilen, die diese sich dann von Zehnjährigen erklären lassen müssen. Deutungsmacht ist reale Macht. Umso wichtiger ist es, die Mechanismen zu verstehen. Das Netz ist das reale Leben von Schülern. Sicher durch diese Welt zu navigieren, ist eine Schlüsselkompetenz, die mindestens so wichtig ist wie Geometrie.

Aber auch Medien selbst müssen ihre Arbeit viel besser erklären. Transparenz ist kein Luxus, sondern die Voraussetzung für Vertrauen. Redaktionen, denen die eigene Zukunft am Herzen liegt, müssen auch in Medienjournalismus investieren. Und sie dürfen die Redaktionen dann nicht mit dem verlängerten Arm der eigenen PR-Abteilung verwechseln. Da hat sich schon mancher Kollege hartleibig zeigen müssen – "renitent wie ein Esel auf Kuba" (Max Goldt).

Journalisten entschlüsseln die Welt. Medienjournalisten entschlüsseln die Medienwelt. So einfach, so komplex. Und diese Aufgabe gehört zu den vielfältigsten und buntesten Jobs, die diese Branche zu vergeben hat. Denn Medienjournalismus ist den klassischen Feldern Fernsehkritik und Medienpolitik längst entwachsen. Medien spiegeln die Gesellschaft, an ihrem Zustand lässt sich der Zustand der Welt wie im Brennglas ablesen. Medienjournalismus ist Gesellschaftskritik.

Das zeigt schon ein Blick in die brodelnde Vielfalt der Themen: Ist die Tagesschau eine links-grünversiffte Propagandamaschine oder ein routinierter Nachrichtentanker? Wie inszeniert sich Grünen-Chef Robert Habeck als Posterboy der "Generation Landlust"? Sind 18,50 Euro für vier Wochen ARD und ZDF angemessen? Darf man den türkischen Ministerpräsidenten lyrisch der Ziegenpenetration zeihen? Bedroht Netflix als Kulturmonopolist die kulturelle Vielfalt des Planeten wie anno dazumal Disney? Wie wurde Kai Diekmann damals vom obersten Schmalztollenpublizisten der Berliner Republik zum digitalen Biohipster mit Hoodie? Wann bekommt wieder jemand anderes als Jan Böhmermann einen Grimmepreis? Wer braucht noch Sat.1? Darf man Pegidademonstranten mit Deutschlandhütchen ins Gesicht filmen? Ist die taz noch Organ des Klassenkampfes oder nur noch Renommierblättchen mit lustigem Titelbild für grüne Startupper, deren größte Sorge nicht Nicaragua ist, sondern die Suche nach frischen Pastinaken? Und: Wer bestimmt, was stimmt?

All das ist Medienjournalismus.

Das wichtigste Argument für die Freiheit der Presse ist ihre Glaubwürdigkeit. "Eine Bevölkerung, die nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles, und zwar demjenigen, der am lautesten brüllt", sagt Claus Kleber. Die Suche nach den geeigneten Werkzeugen, um diesem Gebrüll ein Ende zu machen, ist in vollem Gange. Sie zu begleiten, ist der Job des Medienjournalisten.

Denn es geht um viel: Der Kampf um die Wahrheit selbst ist voll entbrannt. Es ist weniger ein Kampf um einzelne Fakten oder Deutungen, es ist ein Kampf um den Wert der Wahrheit an sich, um jenes "Wörtlein Tatsache" (Gotthold Ephraim Lessing). Wer hätte gedacht, dass sich im 21. Jahrhundert noch einmal zehntausende westliche Wissenschaftler herausgefordert fühlen würden, für die Bedeutung von Faktenwissen und den zivilisatorischen Wert unverrückbarer Gewissheiten auf die Straße zu gehen? Wer hätte gedacht, dass längst ausdiskutiert geglaubte Werte und Normen 300 Jahre nach der Aufklärung noch einmal derart unter die Räder geraten würden?

Die Erosion aufzuhalten helfen

Hinzu kommt: Die Pressefreiheit ist bedroht wie seit Jahrzehnten nicht – durch autokratische Herrscher, "Lügenpresse"-Brüllhälse und Populisten. Die Branche steht auf breiter Front unter dem Dauerverdacht der Staatsnähe. Dass auch dieses Metier Regeln unterliegt, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk gerade geschaffen wurde, um Staatseinfluss zu minimieren, dass freie Verlage keiner politischen Richtung verpflichtet sind – all das muss der Journalismus erklären, statt die Nase zu rümpfen über die Doofheit der heutigen Jugend oder beleidigt um sich zu treten wie mancher Chefredakteur, der sein Heil im Krawall sucht, um eine fehlgeschlagene Kampagne zu kaschieren.

Medien wird permanent vorgeworfen, nicht "die Wahrheit" zu berichten. "Wahrheit" aber ist ein abstraktes, fragiles Idealkonstrukt. "Wahrheit ist, womit deine Zeitgenossen dich davonkommen lassen", hat der amerikanische Philosoph Richard Rorty geschrieben. Absolute Objektivität ist ein illusorisches Ziel, denn schon die Auswahl berichtenswerter Tatsachen ist ein subjektiver Vorgang. Mit dem Transport nüchterner Fakten gehen automatisch ihre Verknüpfung, Gewichtung und Bewertung einher. Individuelle Assoziationen fließen ein, Erfahrungen, Prägungen, Lesarten. Dass die Verpflichtung zur Wahrheitssuche jedoch ehrenhaft ist, dass "Wahrheit" immer das Ziel sein muss, selbst wenn es unerreichbar bleibt – das war bisher gesellschaftlicher Konsens. Dieser Konsens droht zu bröckeln. Die Erosion kann die Branche nur aufzuhalten helfen, wenn sie ehrlich mit sich selbst ist - nach außen und nach innen. Es gibt viel zu tun für Medienjournalistinnen und -journalisten.

"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht", hat Mark Twain mal geschrieben. Hinzu kommt, dass Textformen im Netz kaum zu unterscheiden sind. Kommentar, Werbung, Lobbyismus, Fiktion, Satire, Nachricht, private Posts – alles sieht gleich aus und wirkt gleichrangig. Die regelmäßigen "Leserbriefe" des wundervollen Postillion sind Beweis genug: Es herrscht Verwirrung.

Dass Satire nicht erkannt wird – geschenkt. Dass aber Lügen sich massenhaft verbreiten, ist eines der drängendsten Probleme der Zeit. Fake News, diese politische Pornografie, wirken wie Brandbeschleuniger für Ängste, Vorurteile, Selbstbestätigung. Und es sind eben nicht nur mazedonische Jugendliche in Geldnot, die sich mit dem süßen Gift der Lüge die Anfälligkeit verunsicherter Gesellschaften für Hirngespinste zunutze machen – es sind Parteistrategen, klickhungrige Medien, rechtsradikale Hetzer. Neurosen wuchern gern auf dem Acker der Unsicherheit. Und zeigt nicht der schnelle Blick ins Netz eindeutig, dass das Signal-Rausch-Verhältnis im Journalismus aus dem Lot geraten ist, dass also die Rezeptmischung von leerem Grundrauschen und Substanziellem nicht mehr stimmt? Wer sonst als der Medienjournalist sollte das beklagen, durchaus auch als Anwalt des Lesers?

Wenn nichts mehr wahr ist, ist eine Lüge keine Lüge mehr. Plötzlich klingt jeder noch so absurde Unsinn, als könne er doch einen Funken Wahrheit enthalten. Marina Weisband, aufgewachsen in Kiew, hat den Mechanismus, der sie an sowjetrussische Methoden erinnere, mal sehr klug beschrieben: "Wenn ich Ihnen sage: 'Der Himmel ist grün', dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben. Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: 'Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.' Steter Tropfen höhlt den Schädel."

Gegen den blühenden Unsinn in den sozialen Medien, gegen politische Propaganda hilft nur eine alte Tugend: sauberer Journalismus. Und gegen den blühenden Unsinn im Journalismus hilft eben nur: sauberer Medienjournalismus.

Was mir Hoffnung macht beim Blick auf die Branche ist ihre wachsende Experimentierlust mit neuen Formaten und Finanzierungsmodellen, mal abgesehen von manchem maritimen Blütentraum in Berlin-Mitte. Startups wie Marvin Schades Medieninsider oder Übermedien zeigen: Die Selbstkontrolle der Branche erlebt eine kleine Blüte.

Und: Nach Jahren schwindenden Vertrauens in die heftig gescholtenen "Mainstream-Medien", nach erodierenden Auflagen, einbrechenden Werbeerlösen, massenhaften Stellenstreichungen und einer tiefen Identitätskrise schlug der Medienwelt zuletzt gleich zweimal eine ungewohnte Sympathiewelle des Publikums entgegen: zuerst nach der Wahl von Donald Trump vor allem in den USA, und dann in der Frühphase der Corona-Pandemie auch in Deutschland. Das Bewusstsein für den Wert sauberen Journalismus‘ scheint wieder zu wachsen. Das ist Balsam auf die Blessuren einer Branche, die sich über sich selbst wund diskutiert hat. Offenbar ist in Zeiten, in denen die universale Gültigkeit von Fakten zur Disposition steht, das Bedürfnis groß nach Instanzen, die sich der Wahrheit zumindest verpflichtet fühlen.

Neue Studien bestätigen, wie wichtig freie Medien für die Demokratie sind. In 900 US-Städten, in denen die örtliche Lokalzeitung ihr Erscheinen einstellen musste, engagieren sich die Einwohner weniger sozial, steigt die Korruption und verarmt die politische Vielfalt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft den Wert dieser Arbeit wieder zu schätzen beginnt.

Larissa Marolt trifft Marcel Proust

Und jenseits der Politik? In der Unterhaltung? Ich glaube fest, dass die Zukunft des Entertainment gerade in konfrontativen Zeiten nicht dem Streit gehört, sondern der Liebe. Das Fernsehen passt sein Angebot dem emotionalen Bedarf der Gesellschaft an. Gerichtsshows und Krawalltalk waren die Wachmacher der saturierten Nullerjahre. In aufgeregten Zeiten dagegen wächst die Sehnsucht nach Harmonie statt Dschungelcamp.

Jahrelang ironisierten Feuilletonisten die RTL-Schlepphodensause als komplexen soziokulturellen Versuchsaufbau, um sich ohne Schuldgefühle auch selbst über nächtliche Schlafwandler im Sterbehemd beömmeln zu dürfen. Der Metaansatz als Gesellschaftsspiel war eine prima Ausrede – und verbrämte das Fremdschamfestival einfach als das "Warten auf Godot" für die Tiefkühlpizzafraktion. Larissa Marolt trifft Marcel Proust.

Doch das TV-Prinzip des "Konfrontainment", bei dem die erzählerische Fallhöhe durch die Diskrepanz zwischen der Eigenwahrnehmung und der Außenwirkung der Protagonisten entsteht, hat sich abgenutzt. Casting und Krawall sind out. Denn wenn die Welt sowieso voll ist von Egomanen, Exzentrikern und Schreihälsen – wer braucht dann noch den Dschungel? Bei jedem Flirt "Careless Whisper", bei jeder Träne "Lux Aeterna"? Danke, nein. Mit den Schnitt-Tricks der Dschungelcrew ließe sich auch die Bundespressekonferenz inszenieren wie ein Bürgerkrieg. Lästern über Castinghascherl? Warum denn bitte, wenn das Politpersonal von Ost bis West sowieso jede Parodie übertrifft? Künstliche Erregung? Wofür denn in einer übernervösen Republik?

Medienjournalismus ist systemrelevant. Aber: "Die Kritik an anderen hat noch keinem die eigene Leistung erspart." (Noel Coward). Beim ZDF-sportstudio haben sie einen tollen Trick, um ihren Anspruch sichtbar zu machen, Analyse und Vertiefung zu liefern: Zu sehen sind auch bloß die Bundesliga-Spiele des Tages, genau wie vier Stunden zuvor bei den ARD-Kollegen von der Sportschau – nur diesmal eben aus der Perspektive der am zweitbesten positionierten Kamera. Alles wirkt verrätselter, gebrochener.

Das ist es, was der Medienjournalismus tut: Er betrachtet die Welt durch die zweite Kamera.


Unser Gastautor: Imre Grimm kolumniert bereits seit 1999 in der "Hannoverschen Allgemeinen", übernahm 2013 die Medienberichterstattung beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) der Madsack-Mediengruppe und 2019 ebendort die Leitung des Gesellschafts-Ressorts. Siehe auch hier.

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