Porträt von Judyta Smykowski
Bildrechte: MDR MEDIEN360G / Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Ein Geschenk-Papier von Judyta Smykowski Was im Diversitäts-Diskurs fehlt

28. Oktober 2020, 07:59 Uhr

Die Repräsentation von Behinderten in den Medien lässt zu wünschen übrig. Es gibt zu wenig behinderte Journalisten und zu viele Beiträge mit behinderten Protagonisten, die auf ihre Behinderung reduziert werden. Und was fehlt im deutschen Fernsehen? Eine Figur wie Tyrion Lannister aus "Game of Thrones". Ein noch größeres Problem: Wenn über Forderungen nach mehr Diversität diskutiert wird, sind Behinderte nicht mit gemeint.

Konstruktive Geschichten statt Betroffenheits-Storys!

Die Deutungshoheit im Journalismus liegt in der Hand von nichtbehinderten Journalist*innen. Sie prägen das Bild über Behinderung hierzulande, sie entscheiden, wie über behinderte Menschen berichtet wird, welche Geschichten erzählt werden. Das Problem: Vorurteile und Berührungsängste sind Teil der Berichterstattung. Zudem verkennen die Medienschaffenden diese Macht und die Verantwortung, die damit einhergeht.

Wenn wir Journalist*innen in allen Berichten und Artikeln über Menschen mit Behinderung einmal die Diagnose wegließen - was bliebe übrig von der Geschichte? Ist die Behinderung der ausschlaggebende Punkt, warum wir berichten? Ist sie immer die Nachricht?

Hoffentlich nicht. Denn: eine Behinderung ist immer nur ein Teil der Identität einer Person. Sie kann einen spannenden Beruf, ein Ehrenamt oder eine interessante Familiengeschichte haben. Gleichzeitig geht es nicht darum, die Behinderung zu verheimlichen oder zu beschönigen. Aktuell sind die Medien noch voll von Berichten á la "Wie lebt es sich mit Behinderung xy?" oder von diskriminierenden Erlebnissen, von denen betroffene Menschen fast schon als Legitimation ihrer Behinderung immer wieder bereitwillig erzählen müssen. Das zeigte auch der Hashtag #AbleismTellsMe. Der Ansporn sollte sein, weg von emotionalisierenden Betroffenheits-Storys, hin zu konstruktiven Geschichten zu gehen, an die die gesamte Gesellschaft anknüpfen kann.

Was an Inspiration Porn problematisch ist

Die Berichterstattung über behinderte Menschen fußt seit jeher auf den in der Gesellschaft weit verbreiteten Blicken auf Behinderung. Besonders häufig gibt es in der Berichterstattung den bemitleidenden oder den bewundernden Blick. Doch Mitleid oder Bewunderung sind aus Eigensicht der Protagonist*innen häufig fehl am Platz, denn sie werden ihnen für alltägliche Dinge entgegengebracht. Häufig reicht es schon, mit einer Behinderung zu leben, um eine der beiden Reaktionen hervorzurufen.

Ein weiterer Mechanismus ist ebenso verbreitet: Inspiration Porn. Geprägt hat diesen Begriff die verstorbene Journalistin und Behindertenrechtsaktivistin Stella Young. Der Begriff beschreibt das Phänomen, dass nichtbehinderte Menschen sich durch Leistungen behinderter Menschen motiviert fühlen - nach dem Motto: Wenn die Person mit Behinderung es schafft, diese oder jene Erfolge zu erzielen oder auch nur ihrem täglichen Leben nachzugehen, kann ich es ohne Behinderung doch erst recht. Dabei kommt es zu einer Aufwertung der nichtbehinderten auf Kosten der behinderten Person.

Das Problem von marginalisierten Gruppen ist auch, dass die Aussagen von Einzelnen häufig auf die gesamte Gruppe übertragen werden. Eine Person kann sich nach einem Unfall "an den Rollstuhl gefesselt" fühlen, aber es bedeutet nicht, dass dies für alle Rollstuhlfahrer*innen gilt. Für viele bedeutet ein Rollstuhl die Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Trotzdem hält sich diese Floskel im Sprachgebrauch hartnäckig.

Auch "an einer Behinderung leiden" ist ein gängiger Ausdruck in der deutschen Sprache. Doch das Wort Leid hat gleich eine bestimmte, dramatische Konnotation. Dabei leiden die Menschen vielleicht gar nicht, sondern leben mit der Behinderung. Vielmehr leiden sie unter Barrieren und Diskriminierung.

Hier sollten Journalist*innen viel öfter in der Berichterstattung anknüpfen: Nicht nur berichten, welche Diagnose, Lebenserwartung oder etwaige Leiden eine Person mit Behinderung hat, sondern gerade auch darüber, auf welche physischen und gesellschaftlichen Barrieren sie trifft und was wir als Gesellschaft tun können, um diese Barrieren aufzubrechen.

Denn früher oder später betrifft Barrierefreiheit alle. Jede*r ist einmal auf Barrierefreiheit angewiesen, seien es Eltern, die mit Kinderwagen unterwegs sind, oder ältere Menschen. Auch ist es ein Irrtum, von gesunden und kranken Menschen im Zusammenhang mit Behinderung zu sprechen, denn: Wenn man eine Behinderung hat, bedeutet das auch nicht, dass man krank ist. Übrigens auch nicht, dass man automatisch nicht mehr leben möchte.

Darf man überhaupt noch "behindert" sagen?

Aufgrund des inflationären Gebrauch des Wortes "behindert" als Schimpfwort ist es verständlich, dass sogar einige behinderte Menschen nicht mehr so bezeichnet werden möchten. Doch eine Behinderung zu haben, bedeutet auch das Recht auf Nachteilsausgleich, Teilhabe und Barrierefreiheit.

Behinderung sollte beim Namen genannt werden. Begriffe wie "Handicap" oder "besondere Bedürfnisse" versuchen, die Fakten zu umschiffen und die eigene Unsicherheit zu verschleiern, obwohl doch gerade Journalist*innen das Rüstzeug in der Hand haben, diese Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen: Recherchieren und die Protagonist*innen nach der Eigenbezeichnung fragen und sie überhaupt zu Wort kommen lassen, anstatt nur Eltern oder Pflegepersonal zu befragen. Und wenn sie wirklich nicht für sich sprechen können, dann müssen die Berichtenden dies auch transparent machen.

Es gibt Begriffe, die grundsätzlich nicht mehr verwendet werden sollten. Taubstumm zum Beispiel ist ein zutiefst diskriminierendes Wort für taube Menschen. Denn: Sie sind nicht stumm, sie benutzen die Gebärdensprache, die in Deutschland erst im Jahr 2002 als Sprache anerkannt wurde. 

Im Sinne der sensiblen Sprache sollten Floskeln wie "der blinde Fleck" oder "das ist doch krank" bzw. "das ist doch lame" (englisch für lahm) nicht mehr gebraucht werden. Diejenigen, die gleich fühlen, dass ihnen der Mund verboten wird, gehören dabei meistens zur Gruppe der Privilegierten. Sie beanstanden die politisch korrekte Sprache als etwas Einengendes. Dabei geht es schlicht um diskriminierungsfreie Sprache, um Eigenbezeichnung und um Austausch mit dem Gegenüber.

Wir brauchen Bilder auf Augenhöhe

In der Bildsprache ist als Symbol für Behinderung vor allem eines präsent: der Rollstuhl. Wahlweise mit nichtbehindertem Model, das man leicht an den zu hohen Knien im Sitzen erkennt, oder gleich ohne Person (weiteres Beispiel), inszeniert unter oder vor einer Treppe.

Wir brauchen hier Bilder auf Augenhöhe, mehr authentische Bilder von behinderten Menschen, die auch nur entstehen können, wenn sich Fotograf*innen und die Menschen, die abgelichtet werden, austauschen. Kleinwüchsige Menschen oder Rollstuhlfahrende sollte man nicht von oben fotografieren, sonst ist gleich eine Hierarchie in der Bildsprache erkennbar. In vielen Perspektiven wird der Rollstuhl optisch vergrößert, er sieht sperrig aus, manchmal größer als die Person, die ihn benutzt. Auch hier ist der Irrglaube erkennbar, der Rollstuhl und die Person in ihm sei das Problem, nicht die Barrieren um die Person herum. Das Problem klischeehafter Bilder ist hausgemacht: Je mehr wir die ersten Treffer der Bilddatenbanken aus Zeitnot verwenden, desto mehr wird der Algorithmus darauf trainiert, die immer gleichen Bilder anzuzeigen.

Es gibt Datenbanken, die mit gängigen Klischees aufräumen und zum Beispiel Frauen in der IT zeigen. Gesellschaftsbilder.de zeigt echte behinderte Menschen bei ihrer Arbeit, in der Freizeit oder bei Veranstaltungen. Auch die Fotograf*innen haben teilweise eine Behinderung und können sich so noch besser in ihre Models hineinversetzen, um gemeinsam Barrieren und die Überwindung dieser darzustellen.

Behinderte sind in den Diversitäts-Debatten nicht mitgemeint

Die Arbeitsweise folgt dem Prinzip des Disability Mainstreaming. Das bedeutet: Behinderte Menschen werden überall mitgedacht, weil sie ein Teil der Gesellschaft sind. Im Journalismus hieße dies konkret: Sie sind Redakteur*innen oder Protagonist*innen, die nicht immer nur zum Thema Behinderung recherchieren bzw. befragt werden sondern z.B. als Verbraucher*innen, Schüler*innen und Arbeitnehmer*innen. In der Bildsprache bedeutet dies: das Thema Ausbildungsvergütung kann auch mit einem Auszubildenden im Rollstuhl bebildert werden.

Die Forderungen nach Diversität in den Redaktionen werden immer lauter, doch Menschen mit Behinderung werden in diesem Diskurs oft nicht mitgemeint. Das ist nicht länger hinnehmbar. Die Forderung nach vielfältiger aufgestellten Redaktionen muss endlich alle marginalisierten Gruppen einschließen.

Warum hat der Vater eines Opfers im Tatort nicht einfach mal eine Behinderung?

Fiktionale Medien prägen ebenso das Bild marginalisierter Gruppen. Es werden klischeehafte Charaktere gezeichnet, die leiden oder bemitleidet werden. Die Rollen werden immer noch zu oft von nichtbehinderten Schauspieler*innen gespielt, die so ihren behinderten Kolleg*innen die Engagements wegnehmen. Klar, für die Umsätze braucht es große Namen, aber die Besetzung von Nebenrollen wäre ein Anfang, sonst haben Schauspieler*innen mit Behinderung überhaupt keine Chance, bekannt zu werden.

Schauspieler*innen mit Behinderung sollten zudem nicht auf ihre Behinderung reduziert werden, sondern wegen ihres Talents Rollen bekommen und auch mal einen Anti-Helden spielen, denn viel zu oft sind es nur Rollen vom netten Typen von nebenan. Warum hat der Vater eines Opfers im Tatort nicht einfach mal eine Behinderung? Ohne Verbindung zum Fall, ohne dass sie für die Geschichte irgendeine Rolle spielen würde. Einfach nur so, weil es das tatsächlich auch in der Realität geben soll.

Schaut man in die USA, sieht es besser aus. Netflix entwickelt immer mehr diverse Plots, auch die Oscars machen Diversität künftig zur Voraussetzung. Schon klagen manche, das werde die Filme schlechter machen, da die diversen Plots erzwungen würden. Dem kann man nur entgegnen: Die Welt ist divers, Vielfalt ist längst da, sie muss nur ins Bewusstsein geholt werden. Und: Es kommt darauf an, die eigene Bubble zu verlassen. Auch wieder die natürlichste Sache, die Medienschaffende tun sollten.

An dieser Stelle seien Serien wie Good Wife, Stranger Things, Sex Education und vor allem Game of Thrones positiv erwähnt. Ihnen gelingt es, Menschen mit authentischen Erkrankungen und Behinderung zu zeigen und sie als selbstbestimmte Menschen auftreten zu lassen, die weder ihre Behinderung überwinden oder verneinen müssen, noch ständig leiden. Diese Menschen können auch mal unsympathisch sein, und das wird ihnen auch so ins Gesicht gesagt. Die Diversität in Filmen oder Serien kann man mit verschiedenen Tests selbst überprüfen, die Darstellung von Menschen mit Behinderung etwa mit dem Tyrion-Test, benannt nach der Game of Thrones-Figur Tyrion Lannister. Der Tyrion-Test ist eine Abwandlung des wesentlich bekannteren Bechdel-Wallace-Tests.

Besserung ist auch im Journalismus in Sicht, jedenfalls bei den Angeboten für Jüngere. Das ZEIT-Online-Ressort ze.tt zum Beispiel macht Diversität häufiger zum Thema, Und das ARD/ZDF-Portal funk setzte 2019 mit dem YouTube-Kanal 100percentme ein Signal, hat diesen aber inzwischen eingestellt. Alles in allem mangelt es an nachhaltigen Programmen für die Nachwuchsförderung. In den Redaktionen muss es Menschen geben, die Zugänge schaffen für junge Kolleg*innen mit Behinderung. Das fängt bei der Rampe vor dem Redaktionsgebäude an - muss aber vor allem in der Bereitschaft münden, die Perspektiven wahrzunehmen und sich selbst zurückzunehmen.


Unsere Gastautorin: Judyta Smykowski leitet die Redaktion des Online-Magazins und des Podcasts Die Neue Norm sowie die Redaktion von Leidmedien.de. Im Rahmen ihrer Arbeit bei Leidmedien berät sie Journalist*innen und Filmschaffende zur klischeefreien Sprache und Erzählweisen zu behinderten Menschen.

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