Ein Geschenk-Papier von Deniz Yücel Die Kontrolle der Kontrolleure
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06. November 2020, 12:56 Uhr
Aus dem Sozialkundeunterricht und aus Wikipedia wissen wir, dass unabhängige Medien unverzichtbar sind für eine Demokratie. Sie tragen zur politischen Meinungs- und Willensbildung bei und kontrollieren die Staatsgewalt und alle anderen, die verschiedene Formen von Macht ausüben. Deshalb können jene, die es nicht so mit der Demokratie haben, auch keine unabhängigen Medien ausstehen und bekämpfen diese nach Kräften.
Aber Medien üben selber Macht aus. Und wo Macht ausgeübt wird, wird sie missbraucht, das ist so mit der Macht. „Wer kontrolliert die Kontrolleure?“, hat darum schon Juvenal gefragt. Circa 2000 Jahre später kam die Antwort aus dem Internet, genauer: aus der Netzeitung: „Machen wir.“
Okay, das Altpapier hat die Kontrolle der Kontrolleure – den Medienjournalismus – vielleicht nicht erfunden, das waren im Zweifel irgendwelche Amerikaner. Aber sie hat ihn als tägliche Online-Kolumne zur schönsten Form weiterentwickelt.
Zwar hat sich die mit dem Namen „Altpapier“ verbundene spöttische Kampfansage an die gedruckten Medien zwar als etwas vorlaut erwiesen – noch werden Zeitungen auf Papier gedruckt, während die Netzeitung längst verschwunden ist. Aber das Altpapier hat an anderer Stelle, beim MDR nämlich, überlebt und feiert nun 20-jährigen Geburtstag.
Immer kritisch, oft heiter, aber nur nie – okay, nur ganz selten – triumphierend besserwisserisch. Und nicht nur mit dem Blick darauf, was in Berichten und Kommentaren anderer Medien daneben ging oder worüber sich zumindest streiten lässt, sondern auch darauf, was sie, die Autorinnen und Autoren von Altpapier, für besonders gelungen oder interessant halten. Herzlichen Glückwunsch!
„Es sind goldene Zeiten für den Medienjournalismus“, hat Imre Grimm neulich in seinem Geburtstagsgruß geschrieben. Aber wenn die Bedeutung des Medienjournalismus wächst, wächst auch sein Einfluss, was wiederum zur Frage führt: Wer kontrolliert eigentlich die Kontrolleure der Kontrolleure? Die traurige, ja erschreckende Antwort lautet: Niemand. Keiner. Nobody. (Das bedeutet zwar alles dasselbe, lässt die Situation aber noch dramatischer klingen.)
Keine Berichterstattung ist auch nur annähernd so ungestört – also nicht selber Gegenstand von Berichterstattung – wie die Berichterstattung über Berichterstattung. Der Medienjournalismusjournalismus ist noch nicht erfunden; es gibt keine Kolumne Uraltpapier, auch kein Onlinemagazin Drübermedien, keinen Watchblogwatch, keine Professur für Medienkritikkritik. Den Mann, der im Altpapier Franz Besser war, hat die Welt noch nicht gesehen.
Höchste Zeit, dass sich jemand dieser Aufgabe annimmt. Und bevor irgendwelche Amateure auf Twitter und YouTube sich darin versuchen – wollen sich die Profis vom Altpapier nicht dieser Aufgabe stellen?
Unser Gastautor: Deniz Yücel ist Korrespondent der Zeitung Die Welt. Zuvor arbeitete er für die tageszeitung (taz) und die Zeitung Jungle World. Yücel gewann unter anderem den Theodor-Wolff-Preis, den Kurt-Tucholsky-Preis, im Jahr 2014 war er Journalist des Jahres. Wegen seiner journalistischen Arbeit saß ab Februar 2017 ein Jahr lang in der Türkei ohne Anklage im Gefängnis.
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