Porträt von Lucia Eskes und Vera Lisakowski
Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Lucia Eskes und Vera Lisakowski

Ein Geschenk-Papier mit Lucia Eskes und Vera Lisakowski Ist das Altpapier noch modern genug?

02. November 2020, 08:00 Uhr

Lucia Eskes und Vera Lisakowski sind als Leiterin des Grimme-Preises beziehungsweise des Grimme Online Award verantwortlich für die beiden wichtigsten deutschen Preise in den Bereichen Fernsehen und Internet. Fürs sechste Special zum 20. Geburtstag des Altpapiers haben sich die Kolumnen-Autoren René Martens und Jenni Zylka mit ihnen unterhalten - über Web-Kritik, TV-Serienkritik, Shitstorms und Beißhemmungen.

Die Web-Kritik wird vernachlässigt

René Martens: Das Altpapier ist genauso alt wie der Grimme Online Award (GOA) – 20 Jahre. Vera, gibt es in eurem Beobachtungsfeld Angebote, die seit Jahren ihre Qualität halten?

Vera Lisakowski: Natürlich gibt es Klassiker, die genau so geblieben sind wie damals, als sie nominiert oder ausgezeichnet wurden, oder die sich nur wenig weiterentwickelt haben. Ich würde sagen, das Altpapier, das 2002 und 2003 nominiert war, gehört dazu. Aber auch das Theaterfeuilleton nachtkritik.de, das 2009 nominiert war und sich nur marginal verändert hat. Andere Angebote waren in dem Moment der Auszeichnung oder der Nominierung sehr, sehr gut und spiegelten genau das wider, was zu dem Zeitpunkt der Stand im Netz war, haben sich jetzt aber überlebt.

René Martens: Wie schätzt du auf dem Feld der Medienkritik die Qualität des Subgenres Web-Kritik ein? Gibt es Blogs oder andere Plattformen, die sich auf substanzielle Art mit Neuerungen im Internet beschäftigen?

Vera Lisakowski: Ich finde, dass die Web-Kritik oder Online-Kritik tatsächlich vernachlässigt wird. Es gibt inzwischen relativ viel Podcast-Kritik, vielleicht springt man da auch auf einen Zug auf, weil das gerade viel geteilt wird. Aber die Kritik von Online-Portalen, von Multimedia-Specials etwa, findet meines Erachtens fast gar nicht statt. Was es gibt, ist zum Beispiel Kritik an YouTube-Formaten, worauf sich - neben vielem anderen - der Podcast Lästerschwestern spezialisiert hat. Oder Ultralativ, die eine ganz, ganz neue Form der Medienkritik eingeführt haben mit ihren animierten Videos.

Jenni Zylka: Woran liegt das, dass die Web-Kritik kaum stattfindet? Kein Bedarf?

Vera Lisakowski: Kann ich nicht wirklich beantworten. Ich habe das Gefühl, dass man inhaltliche Entwicklungen im Internet nicht als kritikwürdig erachtet. Es gab mal Blogs, die sich etwa auf Multimedia-Specials spezialisiert haben, aber die haben inzwischen wieder aufgehört. Woran das liegt - das müsst ihr sagen, ihr seid ja die Kritiker und Kritikerinnen!

"Professionelle Medienkritik ist so wichtig wie eh und je"

Jenni Zylka: Ein Format wie das Altpapier, also Medienkritik, die zwar im Netz stattfindet, aber doch von der Form her als klassischer Text daherkommt - funktioniert das überhaupt noch in Euren Augen? Ist das noch modern genug?

Vera Lisakowski: Das funktioniert auf jeden Fall, auch wenn es nicht innovativ ist wie das eben erwähnte Ultralativ. Das Entscheidende ist, dass Form und Inhalt zusammengehen. Ich glaube, dass auch eine Textform funktioniert, und das Altpapier hat ja eine gewisse Web-Spezifik, weil es von Anfang an immer verlinkt hat - auch als es noch nicht so üblich war. Im Zeitungsbereich ist das teilweise ja immer noch nicht üblich. Ich denke, es funktioniert, wenn vielleicht auch nicht für alle Zielgruppen. Aber das wird Medienkritik wahrscheinlich nie.

Lucia Eskes: Ich stimme Vera zu. Ich finde auch, dass das Altpapier in der Form, wie es jetzt existiert, immer noch sehr gut funktioniert. Sicherlich kann man immer wieder über Innovationen nachdenken und wie man die umsetzen kann, aber man hat im Altpapier die Möglichkeit, sich gut, fundiert und ruhig zu informieren, und das Format entspricht, zumindest in meinem Fall, den eigenen Lesegewohnheiten.

Jenni Zylka: Medienkritik ist auch für Leute, die das nicht beruflich machen, viel einfacher geworden, weil man in vielen Fällen die Möglichkeit hat, in irgendeiner Art und Weise direkt zu kommentieren. Könnte sie dadurch auch an Relevanz verlieren? Mit anderen Worten: Sind echte Medienkritiker oder -kritikerinnen überhaupt noch gefragt?

Lucia Eskes: Echte Medienkritiker sind auf jeden Fall gefragt. Natürlich kann heutzutage theoretisch jede und jeder Medienkritikerin sein und direkt kommentieren und kritisieren. Aber es geht ja auch um eine fundierte und professionelle und umfassende Kritik. Und das, glaube ich, kann man kaum leisten, wenn man nicht vom Fach ist. Insofern ist die professionelle Medienkritik so wichtig wie eh und je.

Vera Lisakowski: Beim Altpapier finde ich ganz wichtig, dass unterschiedliche Stimmen zu einem Thema zusammengeführt werden. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt - ähnlich wie bei Übermedien. Beide sind auf jeweils ihre Art eine Anlaufstelle für alle, die sich für Medienkritik interessieren.

Fernsehkritik hat auch eine Orientierungsfunktion

René Martens: Ein medienkritisches Genre, das das Grimme-Institut als Ausrichter des wichtigsten deutschen Fernsehpreises natürlich besonders im Blick hat, ist die Fernsehkritik. Was hat sich in dem Bereich geändert in den letzten Jahren? Findet eine kritische Beschäftigung mit Qualitätsfernsehen in ausreichendem Maße statt?

Lucia Eskes: Fernsehkritik hat sich in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass sie weniger stattfindet. Zumindest, was den eigenen Fernsehmarkt angeht - als Grimme-Preis beobachten wir ja das deutsche Fernsehangebot. Man hat vielerorts die Besprechung des "Tatorts" oder des "Polizeirufs" jede Woche. Auch die Flaggschiffe der Sender, die großen Produktionen, werden ausführlich und in vielen verschiedenen Medien besprochen. Aber ansonsten wird der Markt für die Fernsehkritik kleiner.

Jenni Zylka: Hat das damit zu tun, dass das Angebot riesig ist, während zum Beispiel der Umfang der gedruckten Medienberichterstattung gleichzeitig kleiner wird?

Lucia Eskes: Das hat sicherlich mit der Internationalisierung des Marktes und dem Angebot der Streamingportale zu tun. Dass die Anbieter jeden Monat gefühlt 30 neue Serien auf den Markt bringen, schlägt sich in der Zahl der Kritiken nieder. In dem Bereich gibt es übrigens sehr, sehr gute Rezensentinnen und Rezensenten. Aber das geht zu Lasten des Fernsehfilms, der Dokumentationen und des Dokumentarfilms. Und das bedaure ich sehr, weil Fernsehkritik ja auch eine Art von Orientierungsfunktion hat. Gerade Dokumentarfilme und Dokumentationen, die es aufgrund ihrer Platzierungen im Programm eh oft etwas schwerer haben, ihr Publikum zu finden - wenn die auch in der Kritik nicht mehr vorkommen, wird es halt noch schwieriger, eine Zuschauerschaft zu finden. Oft wird man ja erst aufmerksam auf eine Produktion, weil man darüber liest, weil sie empfohlen wurde, oder weil es eine kritische Auseinandersetzung darüber gibt.

René Martens: Bei der Arbeit in der Grimme-Nominierungskommission Information & Kultur stoßen wir gelegentlich auf sehenswerte Produktionen, von denen wir vorher nie etwas gehört haben - und das, obwohl wir alle sehr gut informiert sind über diesen Bereich des Fernsehens. Das sind Filme, die gelangen am Sendetag praktisch ohne Öffentlichkeit an die Öffentlichkeit, so paradox das klingen mag.

Jenni Zylka: Nachrichtenportale wie Spiegel.de versuchen ja schon, sämtliche großen Talkshows, zahlreiche Unterhaltungsformate und den jeweils neuen Tatort mit reinzunehmen, und in einigen Zeitungen wie der taz gibt es auf dem beschränkten Platz sogar manchmal eine Dokumentarfilmkritik. Aber ich stimme Lucia zu: Es gibt weniger Platz. Und als erstes fallen die Produktionen raus, die sowieso ein kleineres Publikum hätten. Dazu verlieren die Printmedien aus bekannten Gründen an Relevanz.

Lucia Eskes: Ich finde auch, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Talkshows wichtig ist. Aber diese Formate kriegen eh viel Aufmerksamkeit. Ich würde mir das genauso für andere Produktionen und Bereiche wünschen.

Vera Lisakowski: Kritiken wie zum Beispiel zum Dschungelcamp dienen oft ja auch eher der Unterhaltung. Das heißt, man hat eine unterhaltende Sendung und schreibt dann eine sehr launige Kritik da drüber. Als damals die erste Staffel von Big Brother lief, gab es tatsächlich nicht nur in den Medien, sondern auch gesamtgesellschaftlich große Debatten. Jetzt wird auf unterhaltsame Weise über solche Sendungen geschrieben. Das finde ich eine interessante Entwicklung.

Jenni Zylka: Da stimme ich dir zu. Das ist aber auch eine bestimmte Art von Journalismus, den Unterhaltungswert des Textes so hoch zu hängen. Bei Online-Formaten wird, wie wir wissen, mit Klicks gerechnet, und solche Artikel werden einfach mehr gelesen. Ich will das gar nicht abwerten, weil ich auch solche Texte schreibe. Ich versuche auch immer zu unterhalten.

Vera Lisakowski: Ist ein unterhaltender Text über eine unterhaltende Sendung überhaupt noch Medienkritik, oder erfüllt er eine andere Funktion? Ich selbst gucke die Sendungen nicht, lese aber gern die Texte dazu, weil ich sie unterhaltsam finde.

Jenni Zylka: Klar ist das Medienkritik.

René Martens: Auch das Altpapier kann ja zum Beispiel unterhaltsam sein.

Vera Lisakowski: Durchaus!

Jenni Zylka: Und es macht Spaß, solche Texte zu schreiben. Aber es ist auch einfacher, Sachen zu kritisieren, die richtig scheußlich sind. Einen richtig guten oder sperrigen oder ambivalenten Film so zu kritisieren, dass man den Text gern liest, ist komplizierter.

Vera Lisakowski: Vielleicht ist das auch ein Teil der Antwort darauf, warum es das andere, die Kritik des sperrigen Dokumentarfilms, seltener gibt. Man braucht ein gewisses Expertentum im Bereich der Dokumentarfilme, um sie kritisieren zu können. Wohingegen man sich das Expertentum für anderes viel leichter aneignen kann.

Jenni Zylka: Ja, aber das Handwerk, lustig schreiben zu können oder die Absurditäten in Unterhaltungsshows zu erkennen, muss man sich auch erarbeiten.

Lucia Eskes: Ich gebe dir recht, es gehört natürlich auch eine Menge dazu, unterhaltsame Kritiken oder Betrachtungen zu schreiben. Aber um auf das Expertentum für Dokumentationen und Dokumentarfilme zurückzukommen, das Vera erwähnt hat - das ist ja da. Es gibt genug Kolleginnen und Kollegen, die sich auskennen und das leisten können. Das Problem ist ja eher, dass es kaum Möglichkeiten mehr gibt, über solche Filme zu schreiben.

Der Unterschied zwischen Shitstorm und Online-Terror

Jenni Zylka: Themenwechsel: Kann eigentlich auch der Shitstorm eine effektive Art der Medienkritik sein?

Lucia Eskes: Ich würde sagen, es kommt darauf an, um was für eine Art von Shitstorm es sich handelt und was ihn ausgelöst hat. Einen Shitstorm, der daraus besteht, dass Menschen hundert- und tausendfach unsachliche Kritik äußern, sich vereinnahmen lassen, indem sie nur das wiederholen und verbreiten, was andere schon gesagt haben, und das, ohne den Text oder die Sendung, um die es eigentlich geht, überhaupt zu kennen - das halte ich für nicht sehr effektiv. Das bringt vielleicht eine erste Diskussion in Gang, aber ist keine effektive Form der Medienkritik. Andererseits gibt es Beispiele, wie die Geschichte mit der Bild-Zeitung und den Whatsapp-Nachrichten und Telefonaten eines Jungen, dessen fünf Geschwister von der eigenen Mutter getötet wurden. Das war wiederum eine sehr effektive Form des Shitstorms, weil die Bild-Zeitung zurückrudern musste und den Artikel von der Seite genommen hat.

Vera Lisakowski: Ich denke auch, dass ein Shitstorm die Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken kann. Aber es braucht dann hinterher noch die professionelle Kritik, die das Ganze wieder auflöst und ein bisschen runterkocht. Und da ist natürlich die Frage, ob man mit einer professionellen Kritik gegen diese ganze Aufgebrachtheit noch ankommt.

René Martens: Momentan wird der Begriff Shitstorm teilweise benutzt, um substanzielle, teilweise von Wissenschaftlern vorgebrachte Kritik, die mit einem Shitstorm überhaupt nichts zu tun hat, zu einem Shitstorm abzuschwächen - so nach dem Motto "Das kommt ja von Twitter". Hinzu kommt das Phänomen der Verharmlosung durch den Begriff Shitstorm: Wenn wir es eigentlich mit einer Art von Online-Terrorismus zu tun haben, also wenn Leute persönlich angegriffen und bedroht werden, oder wenn die Familie in Mitleidenschaft gezogen wird - auch dann taucht manchmal der Begriff Shitstorm auf. Und da ist er wiederum definitiv zu schwach.

Jenni Zylka: Wie bei den Reaktionen auf den Netflix-Film "Mignonnes". Das Portal wurde wegen angeblicher Verharmlosung von Kindesmissbrauch mit Kritik überhäuft, die Regisseurin wurde mit dem Tode bedroht. Das ist tatsächlich eigentlich Online-Terrorismus oder jedenfalls mehr als ein Shitstorm.

Die Wirkung von Medienpreisen

Jenni Zylka: Kommen wir quasi zur Preisfrage: Welche Relevanz haben eure Preise, die ja auch eine Form von Medienkritik sind, welche Relevanz haben überhaupt Preise in der Medienlandschaft?

Vera Lisakowski: Da das Grimme-Institut keine Negativpreise vergibt, übt es in diesem Sinne keine negative Kritik. Unsere Preise bieten die Möglichkeit, Aufmerksamkeit auf gute Produktionen zu lenken, sei es online oder im Fernsehen oder - über den Radiopreis - im Hörfunk. Dazu können sie in Redaktionen hineinwirken oder eben auf die Produzenten, sie sind ein gewisser Qualitätsausweis, den die Produzierenden bekommen, und das erleichtert ihre Arbeit in der Folge. Und beim Grimme Online Award ist es so, dass nicht nur Profis, also Menschen aus professionellen Institutionen Preise bekommen oder nominiert werden können, sondern auch andere Menschen, die tolle Dinge im Netz machen. Für beide Gruppen bedeutet es aber dasselbe: Man bekommt unter Umständen leichter Folgeaufträge, man genießt einen Vertrauensvorschuss innerhalb des Hauses und kann auch aufwendige Projekte, die schwieriger durchzuboxen sind, leichter realisieren.

René Martens: Wie ist es um die gesellschaftliche Wirkung der Preise bestellt? Kann man feststellen, dass es thematisch oder ästhetisch Auswirkungen hat, wenn bestimmte Angebote oder Produktionen einen Preis bekommen?

Lucia Eskes: Es ist die große Stärke des Grimme-Preises und des GOA, bestimmte Themen nach vorne zu holen und damit unter Umständen Redaktionen den Rücken zu stärken, weiter an diesen Themen arbeiten zu können. Sender sehen sich ja zunehmend der Kritik ausgesetzt, dass in ihrer Berichterstattung wichtige Themen unterrepräsentiert sind. Und wenn man an Redaktionen oder an Projekte und Produktionen, die diese wichtigen Themen bearbeiten, Preise vergibt, bringt man damit eine Wertschätzung für diese Arbeit zum Ausdruck. Dazu hat der Grimme-Preis den Anspruch, gesellschaftspolitische Debatten abzubilden, die im abgelaufenen Jahr stattfanden. Das tun beide Preise mit dem, was sie auszeichnen.

Vera Lisakowski: Es ist aber schwierig, einen Gradmesser für so etwas auszumachen. Wann wirkt etwas in die Gesellschaft hinein? Was man natürlich sieht, ist die Kommunikation über die Themen, die durch die Preise an Aufmerksamkeit gewinnen, und gegebenenfalls auch über die Nominierten oder Preisträger. Da merkt man dann schon, dass es auf jeden Fall wahrgenommen wird. Und was wir dank der kürzeren Produktionszeit im Netz beim GOA oft sehen: Dass es dann häufig im folgenden Jahr mehr Projekte zu einem Thema gibt, das im Vorjahr ausgezeichnet wurde. Das heißt nicht, dass diese Angebote unbedingt preiswürdig sind, aber man sieht, dass es wahrgenommen wird und sich Leute damit beschäftigen und davon inspirieren lassen.

Sind Medienjournalisten zu nett?

René Martens: Gibt es aufgrund der heutigen wirtschaftlichen Situation der Medienhäuser möglicherweise eine geringere Bereitschaft, sich gegenseitig zu kritisieren? Sind die Medienhäuser zu nett zueinander? Auf die öffentlich-rechtlichen Sender wird zwar immer wieder eingehauen, und der Fall "Relotius" war eine große Geschichte. Aber generell scheint es mir doch eine gewisse Beißhemmung zu geben.

Jenni Zylka: Einer der Gründe für deinen Eindruck könnte sein: Es gibt immer weniger angestellte Medienkritikerinnen und Medienkritiker, weil die entsprechenden Ressorts nicht mehr da oder kleiner geworden sind. Und die Freien, die noch beauftragt werden - bei mir ist das genauso - haben vielleicht tatsächlich manchmal eine Beißhemmung, weil sie für verschiedene Redaktionen schreiben, und weiterhin deren Aufträge brauchen. Und nicht die Hand beißen wollen, die sie füttert.

Lucia Eskes: Die wirtschaftlichen Zwänge sind das eine. Ich glaube aber auch, dass eine verständliche Angst existiert, dass berechtigte Kritik von der falschen Seite vereinnahmt wird. Beispiel öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Daran gibt es jede Menge Dinge zu kritisieren, das tun wir ja auch. Aber man hat immer ein gewisses Klientel, das dann aufspringt und pauschalisiert und "Lügenpresse" oder "Systempresse" schreit. Vielleicht will man darum weniger Angriffsfläche bieten.

René Martens: Ich würde mal versuchen, es positiv zu wenden. Um nicht Applaus von Leuten zu bekommen, von denen man keinen Applaus bekommen möchte, muss man heute bei Kritik an beispielsweise regierungsfreundlicher Berichterstattung sehr viel differenzierter und kontextgenauer argumentieren als, sagen wir mal: zu Prä-Pegida-Zeiten. Letztlich können Texte von solchen Anstrengungen, sofern sie gelingen, auch profitieren.

Vera Lisakowski: Um die medienjournalistische Berichterstattung bestimmter Medien einschätzen zu können, sollte man als Leserin und Leser oder als Hörerin und Hörer immer zumindest grob die Agenda kennen, die diese verfolgen. Da wünsche ich mir manchmal Transparenzhinweise, in guter alter Blog-Tradition.

Jenni Zylka: Ich nehme, und vielleicht liegt das auch an meinen Abnehmern, die Kollegen und Kolleginnen, die in den Redaktionen medienjournalistische Themen betreuen, als eigenständig wahr. Für mich gab es noch nie einen Grundkonsens, eine Blatt-Agenda, die mir irgendwas verbieten würde. Die Agenda kommt vielleicht eher darin zum Ausdruck, was eine Redaktion wahrnimmt und was sie für Themen in Auftrag gibt.

Vera Lisakowski: Mir geht es eher darum, dass man einen klassischen Disclaimer macht, wenn man selbst in ein Thema involviert ist, über das man berichtet. Das trifft zum Beispiel für juristische Auseinandersetzungen zu. Um noch ein Beispiel für Verbesserungsbedarf, zumindest bei den Sendern, zu nennen: Bei manchen scheint es, als ob die medienjournalistische Berichterstattung zu stark auf die Produktionen des eigenen Hauses konzentriert ist.

Jenni Zylka: Ja, das kenne ich allerdings auch. Das ist dieses klassische "Nicht über den Tellerrand Schauen". Wenn man mit öffentlich-rechtlichen Sendern über Medienprodukte und Inhalte spricht, dann reden die von ihrem eigenen Content, weil sie es ja auch zeitlich kaum schaffen, irgendwas anderes zu gucken, und davon ausgehen, dass der Zuschauer auch immer nur einen Sender guckt. Das hat mit dem System zu tun. Deren Agenda ist tatsächlich, das eigene Programm zu verteidigen und zugänglich zu machen.

Lucia Eskes: Die Sender argumentieren ja oft: Das interessiert den Zuschauer, die Zuschauerin nicht. Aber wenn man bestimmte Angebote gar nicht erst macht, kann man gar nicht wissen, ob das Publikum das annimmt.


Disclaimer: Mehr als die Hälfte der Autorinnen und Autoren des Altpapiers arbeiten regelmäßig in den Jurys und Nominierungskommissionen des Grimme-Preises oder des Grimme Online Award mit. Das gilt auch für Jenni Zylka und René Martens.

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