Schwarz-Weiß-Porträt des Dirigenten Gerhart Wiesenhütter
Gerhart Wiesenhütter Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Dirigent Gerhart Wiesenhütter

Musikalischer Oberleiter des Sinfonieorchesters des Senders Leipzig von 1946 bis 1948

Schwarz-Weiß-Porträt des Dirigenten Gerhart Wiesenhütter
Gerhart Wiesenhütter (1912–1978). Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Gerhart Wiesenhütter war ein glänzender Organist. Dem Kirchenmusiker eilte ein ausgezeichneter Ruf voraus, der sich vor allem auf seine Fähigkeiten bezog, Orchestermusiker in kürzester Zeit zu einem ganz besonderen Klang zu verschmelzen. Schon bei der Dresdner Philharmonie hatte er dadurch nach dem Krieg wertvolle Aufbauarbeit geleistet.

Nun waren die Hoffnungen groß, dass ihm dies auch in Leipzig gelingen würde, als er die Interims-Doppelspitze Schröder/Schachtebeck ablöste. Als musikalischer Oberleiter begann er im Juni 1946. Der Leipziger Sender übernahm im August 1946 das Leipziger Sinfonieorchester sowie den wieder zusammengeführten Rundfunkchor. Wiesenhütter baute neben dem Leipziger Sinfonieorchester das "Große Rundfunkorchester Leipzig" auf, das als neuer Klangkörper für den Unterhaltungsbereich gegründet wurde. Für alle drei Klangkörper trug er die künstlerische Verantwortung.

Schwarz-Weiß-Foto von Gerhart Wiesenhütter mit dem Leipziger Sinfonieorchester im großen "S1".
Der große "S1" mit dem Leipziger Sinfonieorchester im Mai 1948 bei einer Aufnahme mit Gerhart Wiesenhütter am Pult. Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Gerhart Wiesenhütter: Neue Impulse für das Orchester

Gerhart Wiesenhütter, der in der Presse gern als "Erzmusikant" gefeiert wurde, schaffte es in kürzester Zeit die Vielzahl an Musikern, die der Sender neu verpflichtet hatte, zu einem ausgezeichneten Orchester heranzubildenen. Sein besonderes Timbre erhielt es dabei vor allem durch seinen geschlossenen vollen und warmen Streicherklang. In der damaligen Presse wurde Gerhart Wiesenhütter daher nicht nur als Künstler, sondern auch als Orchestererzieher hochgelobt. Er war zu jener Zeit nahezu omnipräsent, dirigierte fast alle Konzerte selbst, war nur einmal nachweislich krank und spielte neun von zehn Tonbandaufnahmen in den Jahren 1946 bis 1948 persönlich ein.

Dem hochgewachsenen Orchesterleiter wird von verschiedensten Seiten eine charismatische Ausstrahlung attestiert und seine reduzierte Zeichengebung beim Dirigieren wurde mit der Furtwänglers verglichen. Zeitzeugen schwärmen von einem untrüglichen Gespür für Ausdruck, seiner Schnelligkeit, Neues einzustudieren, seiner hohen Vielseitigkeit, Ausdauer und Zähigkeit sowie seiner enormen Direktheit in der musikalischen Zusammenarbeit. Er schien der richtige Mann zur richtigen Zeit zu sein, der dem Orchester die notwendigen frischen Impulse gab.

Parteikritik

Doch dem breiten, öffentlichen Lob standen im August 1948 bereits erste Vorwürfe und Anschuldigungen in funkinternen Parteiverhandlungen gegenüber, die sich aus heutiger Sicht zwar als haltlos und nichtig erweisen, aber für Gerhart Wiesenhütter damals weitreichende Konsequenzen hatten.

Ihm wurde ein parteifeindliches, antisowjetisches Verhalten vorgeworfen, bis hin zu Schiebereien und die Vorbereitungen seiner Flucht in den Westen. Auch dass er mit Vorliebe Musiker mit einer NSDAP-Vergangenheit engagiert haben solle, gehörte zu den Vorwürfen.

Öffentliche Diffamierung

Schwarz-Weiß-Porträt des Geigers und Komponisten Alfred Malige.
Geiger Alfred Malige (1895–1985). Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Alfred Malige war Violinist und Komponist, seit 1923 Mitglied der KPD und Vorstandsmitglied des Deutschen Musikerverbandes. Von 1925 bis 1959 war er Mitglied des LSO. Alfred Malige hatte Gerhart Wiesenhütters Ausschluss aus der SED und seine sofortige Entlassung am vehementesten gefordert. Grund dafür wird gewesen sein, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden abgekühlt hatte. Während Gerhart Wiesenhütter sich anfänglich für Maliges Engagement einsetzte, beklagte er später wiederholt dessen mangelnde Leistungen.

In einer Parteiversammlung am 27. September 1948 wurde der Ausschluss Gerhart Wiesenhütters aus der SED vollzogen. Er war damals nicht anwesend, kam vielmehr einer Gastverpflichtung beim RIAS in Berlin nach und hätte vermutlich, nachdem die Partei-Maschinerie angelaufen war, auch in Präsenz nichts ausrichten können. Er wurde schließlich öffentlich als "Parteischädling" vorgeführt und fristlos entlassen.

Die Zeit nach dem Rundfunk

Nach Gerhart Wiesenhütters Hinwurf folgten für ihn mehrere Gastspiele bei Berliner Orchestern, aber seine Hoffnungen, hier etwa beim Berliner Rundfunk Sinfonieorchester fest unter Vertrag genommen zu werden, erfüllten sich nicht.

Seine Laufbahn als Musikalischer Oberleiter bzw. Chefdirigent führte ihn an diverse Theater und Orchester in Ostdeutschland. Die Gast-Saison 1967/68 als Leiter des ägyptischen Sinfonieorchesters in Kairo blieb eine Ausnahme. Sein Wirken als Dirigent, dokumentiert in über 200 Tonaufnahmen und diversen Schallplatteneinspielungen, zeigt, dass ihn seine Leidenschaft und Sorgsamkeit für und um die Musik glücklicherweise nicht verlassen hatte.

Klangbeispiel

Ottorino Respighi

Adagio con variazioni (für Violoncello und Orchester),
Sinfonieorchester des Senders Leipzig, Gerhart Wiesenhütter, Dirigent
Wilhelm Possega, Violoncello
Leipzig, Funkhaus R III, 16. Mai 1947

Schwarz-Weiß-Foto von Gerhart Wiesenhütter mit dem Leipziger Sinfonieorchester im großen "S1". 14 min
Der große "S1" mit dem Leipziger Sinfonieorchester im Mai 1948 bei einer Aufnahme mit Gerhart Wiesenhütter am Pult. Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Steckbrief

  • 1912 geboren in Dresden, schon früh Mitglied des Kirchenchors der St.-Johannes-Kirche in Dresden
  • 1928–1934 Studium der Fächer Orgel und Dirigieren an der Staatlichen Orchesterschule der Sächsischen Staatskapelle Dresden
  • 1934–1936 Stadtkapellmeister in Glauchau, erste Gastverpflichtungen im In- und Ausland
  • 1937 Berufliche Benachteiligungen, weil er Werke von Mendelssohn-Bartholdy aufführte und damit den Aufführungskodex der Nationalsozialisten missachtete
  • 1941 Erster Kapellmeister am Stadttheater Saarbrücken
  • 1942 Erster Kapellmeister Landessinfonieorchester Westmark Ludwigshafen
  • 1943 Staatskapelle Karlsruhe
  • 1944 Dienstverpflichtung als Bürobote in Niederau bei Weinböhla, später kurzzeitig stellvertretender Bürgermeister in Weinböhla
  • 1945 ab 1. Juni Erster Dirigent der Dresdner Philharmonie, im November Generalmusikdirektor
  • 1946 Musikalischer Oberleiter des Leipziger Sinfonieorchester, das im August vom Sender Leipzig übernommen wurde
  • 1948 wegen "parteifeindlichen und antisowjetischen Verhaltens" des Amts enthoben und aus der SED ausgeschlossen, Wechsel als GMD an das Landestheater Halle/Saale
  • 1955–1957 Musikalischer Oberleiter am Volkstheater Rostock, dann Metropol-Theater Berlin
  • 1958 Gastdirigent beim Loh-Orchester in Sondershausen, ab 1959 als künstlerischer Oberleiter, zahlreiche Konzerttourneen und Schallplattenaufnahmen bis 1970
  • 1967 Leiter des ägyptischen Sinfonieorchesters in Kairo bis 1968
  • 1970 Chefdirigent am Staatlichen Sinfonieorchester Gotha bis 1975, dann freischaffend
  • 1978 gestorben in Sondershausen

Mehr zu Gerhart Wiesenhütter

Artikel: Leipziger Volkszeitung vom 9. Juli 1946

"Karlsruhe, Mai 1943: Die zweite Vorstellung der soeben uraufgeführten Oper 'Schinderhannes' von Gustav Kneip ist durch plötzliche Erkrankung des Dirigenten in Frage gestellt. Ein junger Kapellmeister springt als Gast ein und leitet die ihm fremde Oper ohne jede Probe mit Solisten und Orchester – eine einzigartige, fast unglaubliche Leistung – Der gleiche Dirigent lässt zwei Jahre zuvor am Saarbrückener Theater die Einstudierung einer alten Repertoire-Oper (Verdis 'Rigoletto') zu einem großen Erlebnis werden. Die abgedroschenen Melodien, Klang und Rhythmus erstanden wie neu. Die Exaktheit der Aufführung wirkte sensationell. – Dem gleichen Musiker bezeugten Kritiken, dass er, vom Studium der Kirchenmusik herkommend, ein Orgelspieler sei, der sich den bedeutendsten deutschen Organisten an die Seite stellen dürfte, und ihm prophezeien seine Lehrer, voran der überkritische Dresdner Operndirektor Kutzschbach, dass er zu den größten Hoffnungen und Begabungen des Dirigentennachwuchses gehöre. – Dieser Erzmusikant ist nun, von der Aufbauarbeit am Dresdner Musikleben ungern freigegeben, in den Kreis der Mitarbeiter des Senders Leipzig getreten: lang, aufgeschlossen, strahlend, immer froh und freundlich, mit all seiner jugendhaften Frische und Unbekümmertheit, all seiner strengen Kritik an sich selbst und den anderen, all seiner kaum zu bändigenden Aktivität und Musizierfreude, mit der er der musikalischen Arbeit des Senders ein Gesicht zu geben anstrebt. Nicht das Gesicht des Sinfonieorchesters – dazu hat der neue Oberleiter durch mehrjährige geliebte Arbeit als Kurkapellmeister durchaus keine Neigung –, sondern als Sender der 'Musik für alle', eines Musikprogrammes, das den Freunden und Kennern der schweren Sinfonie ebenso gerecht werden soll wie der Masse der Werktätigen in ihrem Bedürfnis nach Entspannung, nach guter Unterhaltung und Erhebung."

Die Presse zieht nach ein- und dann nach zweijährigem Bestehen eine einhellige Bilanz:

Artikel: Leipziger Volkszeitung vom 29. August 1947

"Ein Jahr ist für so einen komplizierten Organismus, wie ihn ein großes Orchester darstellt, eine verhältnismäßig kurze Zeit. Trotzdem hat es sich – neben seiner weit ausstrahlenden Tätigkeit im Funk – im Kulturleben Leipzigs eine festumrissene Stellung geschaffen und ist als wesentlicher Faktor nicht mehr wegzudenken. Das verdankt es zunächst dem Umstand, dass es sich im Einzelnen aus trefflichen, strebsamen Musikern zusammensetzt, zum zweiten seinem Dirigenten Gerhart Wiesenhütter, der es in intensiver Probenarbeit verstanden hat, alle die Individualitäten zu einem einheitlichen Klangkörper zusammenzuschweißen."

Artikel: Leipziger Volkszeitung vom 31. August 1948

"Das Sonderkonzert erwies erneut, dass hier wirklich ernsthafte Aufbauarbeit geleistet worden ist. Was instrumental-technische Präzision anbelangt, so hat man schon Anspruch auf einen Platz in der ersten Reihe der deutschen Orchester. Über Einzelheiten kann man immer verschiedener Meinung sein, wesentlich ist und bleibt, dass eine Werkausdeutung stilistische Geschlossenheit und musikantische Lebenswärme ausstrahlt. Diese Bedingungen werden von Gerhart Wiesenhütter und dem Sinfonieorchester des Senders in hohem Grade erfüllt, so dass dieses Sonderkonzert eigentlich gar nichts Besonderes war, sondern eben die künstlerische Grundhaltung dieses hervorragenden Instrumentalkörpers und seines Dirigenten aufs Neue herausstellte."

Brief: Gerhart Wiesenhütters Schreiben vom 27. September 1948 an den Vorsitzenden der SED Bezirksgruppe.

Schwarz-weiß-Foto SED Schreibens Teil 1
SED Schreiben Teil 1 Bildrechte: MDR KLASSIK

Schwarz-weiß-Foto SED Schreibens Teil 2
SED Schreiben Teil 2 Bildrechte: MDR KLASSIK

Artikel: Meldung aus der "Leipziger Volkszeitung" vom 29. September 1948

Schwarz-weiß-Foto des Zeitungsartikels "Säuberung der Partei von Parteischädlingen"
Zeitungsartikel "Säuberung der Partei von Parteischädlingen" Bildrechte: MDR KLASSIK

Artikel: Meldung aus der "Leipziger Volkszeitung" vom 12. Oktober 1948

Schwarz-weiß-Foto des Zeitungsartikels "Gerhart Wiesenhütter aus der SED ausgeschlossen"
Zeitungsartikel "Gerhart Wiesenhütter aus der SED ausgeschlossen" Bildrechte: MDR KLASSIK